Architektur und Trübsinn

Gebäude haben einen starken psychotropen Effekt, der eigentlich nur mit dem von Psychopharmaka zu vergleichen ist. Daher sollten Architekten nicht so ohne weiteres auf die Menschheit losgelassen werden. In manchen Gebäuden gerate ich sofort in einen - wenn auch nicht tiefen, so doch allen diagnostischen Kriterien entsprechenden - depressiven Zustand. Ich spüre das meist schon beim Betreten des Hauses und bemühe mich, möglichst schnell wieder raus zu kommen.


Wenn man bewusst auf seine Befindlichkeit innerhalb von Gebäuden achtet, so eröffnet sich auch der Zugang zur Psychohistorie, d.h. zur Befindlichkeit der Gesellschaft und Zeit, in der diese Gebäude gebaut und ausgestattet wurden. Man spürt, wie sich die Leute damals, als diese Häuser gebaut wurden, gefühlt haben müssen. Das gilt natürlich nur, wenn man selbst in dieser Zeit gelebt hat und sich - durch die Konfrontation mit der Stein (oder Möbel) gewordenen Geschichte - wie mit einer Zeitmaschine in die Vergangenheit gebeamt fühlt.


Für mich gut zu beobachten am letzten Freitag, als ich im Ratssaal des Hannoverschen "Neuen Rathauses" saß. Er wurde nach dem Krieg erst relativ spät renoviert und 1959 eingeweiht. Wenn man erleben will, wie die 50er Jahre waren, dann muss man da nur reingehen. All die Kleinkariertheit, der Mief, die Große-Teakholz-weite-Welt der Peter Stuyvesant... Wenn man diesen Ratssaal kennt, dann weiss man, warum Hannover von "Schnellwegen" (so heißen hier die Stadtautobahnen) durchzogen ist. Dazu passt das - erst anderthalb Jahrzehnte später - am Kroepke, dem Mittelpunkt der Stadt, gebaute Hochhaus aus Waschbeton (ist der nicht inzwischen aus ästhetischen Gründen verboten?).


Das Leibniz-Haus, in dem einer der großen Söhne der Stadt lange gelebt hat, ist von außen wunderbar rekonstruiert. Aber innen... ich sage nur: 1983 eröffnet, gekachelt und mit Teppichböden im Stil der Zeit ausgestattet. Wenn man solche Gebäude sieht, dann ist man bereit, sich mit jedem zeitgenössischen Architekten zu streiten, der den Wiederaufbau von Gebäuden nach den Originalplänen für historisierenden Kitsch hält. Lieber Kitsch und Imitation von Geschichte als mit kleinen braunen Plättchen gekachelte Klos. Man stelle sich das Berliner Schloß vor, wenn es wieder aufgebaut ist, und 20 Jahre später jemand dort das Klo betritt (was ist in der Hinsicht heute gerade en vogue?).


Auf diese Weise architektonisch mit den 60er bis 80er Jahren konfrontiert, wundere ich mich nicht mehr, dass es damals zu Revolutionsversuchen gekommen ist (was, um Missverständnissen vorzubeugen, natürlich nicht als Rechtfertigung verstanden werden sollte, Menschen umzubringen - nicht einmal Architekten).