Angekoppelt

###*Am morgen*###

„Man sagt auch, hinter dem weißen Schleier bewahre der Himmel die Träume der Kinder und die Erinnerungen der Alten auf. Nachts verschmelzen sie zu einem Ganzen.“

Tahar Ben Jelloun, aus: Die Schule der Armen


Während ich die Woche mit der – zugegeben effektheischenden – Überschrift zu einem japanischen Fruchbarkeitskult begonnen habe – bin ich gestern bei einer Suchtklinik und vor allem durch den Kommentar bei psycholytischer Therapie angekommen. Bereiche, in denen sich die Wirklichkeitskonstruktionen der Akteure stark unterscheiden. Beispielsweise die Narrationen über die Substanz mit den vier Buchstaben, um die es gestern auch im Kommentar ging.


Der „Fruchtbarkeitskult“ lässt mich zu einem Hochzeits-Ritual schweifen, an dem ich letztes Wochenende teilgenommen habe. Zufällig (na ja, nicht ganz) war das heiratende Paar bereits schwanger, konnte also von der brav befolgten amtlichen Anordnung, vor dem Heidelberger Rathaus sei gefälligst kein Reis zu streuen (bekanntlich ein Fruchbarkeitssymbol), keinen Schaden nehmen. Wir haben uns stattdessen mit Blütenblättern schadlos gehalten, vor allem meine Töchter hat es begeistert, andere mit etwas bewerfen zu können.

Spiel und Spaß im Ritual: nicht gerade eine europäische Tugend, jedenfalls kein Konzept, das unbedingt zu unserer traditionellen Vorstellung von „Ritual“ passt, die von christlich-religiösen Eindrücken würdevoller Formalität geprägt ist (der Diskurs über „Rituale“ in der systemischen Therapie zeigt noch eine etwas andere Schlagseite). Am Nachmittag jedenfalls gestalteten die beiden dann eine eigenwillige und sehr gelungene Zeremonie, bei der ein räumlich von allen Hochzeitsgästen zu durchschreitender Lebensweg über vier Stationen in einer Kapelle mündete. Die Stationen waren individuell gestaltet worden, auch von mir.

Interessanterweise nun hatten die beiden den Priester aus der Kapelle entfernt: die rituelle Autorität war ganz in ihre eigenen und die Hände der Freunde übergegangen. Statt traditioneller Trauformel nun ein individuelles Trauversprechen. Statt Segen der Kirche, „selbstorganisierter“ Segen in der Kirche.

Die kleine Kapelle jedenfalls, viele Jahrhunderte alt, hat sich bereitwillig zur Verfügung gestellt – und somit vielleicht doch die über ... sieben Generationen herreichende „Kraft“ der Tradition konzentriert. Die Resonanz zwischen Paar, Gästen, bewusst gestalteter und beiläufig gegenwärtiger Symbolik war geglückt.

Solche „neuen“ und individualisierten Rituale wirken allerdings viel anfälliger für Misslingen, als die bekannten Formen; Peinlichkeit, Überfrachtung mit „unverstandener“ Symbolik könnte die Gestalt der ganzen Inszenierung überschatten (ich kenne jedenfalls solche Beispiele). Hier war das Gegenteil der Fall: die Inszenierung hat funktioniert, gerade durch die Mischung aus Spontaneität, Überraschung und Anspielung auf Bekanntes, Erwartetes. Ohne weißen Schleier, mit den „Träumen der Kinder“ und den „Erinnerungen der Alten“. Angekoppelt. Verheiratet. (Viel Glück A & A).


Interessant bei allen (rituellen) Inszenierungen: Die Interaktion von Vordergrund und Hintergrund. Die Kunst eine funktionierende Gestalt zu "zeichnen".


"The traditional emphasis in western art (in unserem Fall auch: "Ritual", d.A.) upon the primacy of **foreground** subjekts and **continuousness** of tones (in unserem Fall auch: "Sinn", d.A.) gave way to fragmentation and an new awareness of the **picture plane**."

Scott McCloud, Understanding Comics. The invisible Art