Als die alten Meister noch ungestraft "zitieren" durften

Gestern habe ich ein wenig über Mozart & Co fabuliert. Auch heute bleiben sie uns noch erhalten. Kennen Sie die Diskussion um den geistigen Diebstahl, den manche begehen? Zum einen ist damit gemeint, dass Musik illegal aus dem Internet heruntergeladen wird und die Künstler dafür kein Geld erhalten. (Ich muss mich ein wenig korrigieren: es geht hier weniger um die Künstler als um die Musikindustrie, die um ihre Pfründe fürchtet.) Zum Zweiten wird darunter verstanden, wenn Künstler das Gedankengut eines anderen unautorisiert verwenden. Vielleicht kennen Sie die Gruppe Enigma noch, die irgendwelche Chöre mit ihren mittelalterlichen Gesängen ungefragt gesamplet (aufgezeichnet) hat und diese Musik mit ein paar unterlegten Rhythmen etwas aufgepeppt und der Gegenwart angepasst hat. Auf alle Fälle wurde das Ganze ein Riesenhit.


KLAMMER AUF: Die singende und Platten aufnehmende Klostergemeinschaft klagte gegen Enigma bzw. gegen Michael Cretu, der Enigma ist, und gewann. Und mancher der Mönche, der den Ursound zum Hit geliefert hatte, soll - so weit ich weiß - darauf seine Kutte und sein Gelübde bzgl. eines asketischen Lebens abgelegt haben, um so in den Genuss des erstrittenen geldwerten Stroms zu kommen. KLAMMER ZU.


Im Grunde ist diese Sampling-Kultur heute Standard. Längst sind die Plattenschränke der Eltern von jungen Sampling-Künstlern nach interessanten Melodielinien durchforstet und archiviert, um sie alsbald wieder- und weiterzuverwenden. Und dass in diesem Zusammenhang unbestreitbar neue Wege in musikalischen Klang umgesetzt werden, macht das Beispiel Enigma offensichtlich. Oder glauben sie, dass auch nur einer der Mönche gedacht hätte, dass man zu ihren Gesängen auch hätte tanzen können?


Die Frage aber ist: Darf man das, so ungefragt mit Melodiefetzen anderer die eigene Musik zu verfeinern? Ist das nicht unschicklich, unmoralisch, mit dem Gedankengut eines anderen zu punkten? Schnell ist das Urteil gefällt, vom geistigen Eigentum ist eben die Rede. Wie kann man nur? Man ist schnell geneigt, diesem moralischen Urteil, das juristische Folgen impliziert, zu folgen, doch wer diese Haltung teilt, sollte gleichzeitig dankbar sein, dass Mozart & Co nicht heute leben. Denn auf sie träfe dieses Urteil ebenso zu. Mozart und seine Kollegen würden heute nämlich ziemlich schnell mit dem Gesetz in Konflikt kommen und des geistigen Diebstahls bezichtigt werden. Wieso? Nun, die Antwort ist leicht zu fällen. Zu Zeiten Mozarts war es gang und gäbe, musikalische Ideen von Kollegen - sofern sie gefielen - zu "würdigen", und konkret hieß das, Fremdmaterial oder Teile davon in die eigene Musik zu integrieren. Und man erfreute sich als Zuhörer daran, wie intelligent die frech-unbekümmerten Notensetzer mit fremdem Material umzugehen verstanden. Man erkannte den eigentlichen Kreateur noch, der das Urmaterial geliefert hatte, und doch war die Musik typisch Mozart, Beethoven oder wie sonst der Kollege hieß, der die Finger vom fremden Material nicht lassen konnte. So entsteht Neues. Das Ganze nannte man dann vornehm: „zitieren“ und umschrieb nichts anderes, als dass man in jener Zeit vom anderen klaute, was das Zeug nur hergab. Und ein schlechtes Gewissen hatte niemand dabei.

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Nichts anderes machen Künstler heute: Sie nehmen, was ihnen musikalisch wertvoll erscheint (sie zitieren) und umrahmen dies mit neuen Sounds, bis es ästhetisch gefällt und ein Eigenes darstellt. Da sieht man, wie sehr es eine Frage der Perspektive ist, ob etwas als recht oder als unrecht, als moralisch gerechtfertigt oder nicht betrachtet wird. Wir erfreuen uns an der unbedenklichen Vermischungsmusik früherer Zeiten, wo es Komponisten mal mehr (Mozart), mal weniger gut (die Pietät gebietet es, hier auf eine Namensnennung zu verzichten) gelang, von ihnen "geklautes" musikalisches Fremdmaterial zu verarbeiten. Wenn es Ihnen gefällt, nennen Sie es halt "zitieren". Es umschreibt gleichwohl weiterhin den gleichen Sachverhalt. Dann sollte man aber auch bei der Populären Musik, in der Fremdes zu Eigenem verarbeitet wird, das „Zitat“ in den Vordergrund stellen und nicht den Diebstahl, zugleich den moralisch bedingten Vorwurf runterschlucken, den erhobenen Zeigefinger wieder einfahren und nicht gleich mit dem Rechtsanwalt drohen.

Vielleicht wäre die aus dieser Richtung gewählte Perspektive die für Kunst geeignetere: Was Mozart & Co recht war, kann den heutigen Künstlern nur billig sein. Hauptsache, das Ergebnis stimmt, nicht? Und: Die Entwicklung der Musik ist doch auf den "konstruktiven" Umgang mit fremden Ideen seit je grundsätzlich angewiesen gewesen. So haben auch die kleinen Mozarts der Gegenwart eine größere Möglichkeit, später mal als große gefeiert zu werden, wenn sie nicht mit der Schere im Kopf arbeiten müssen und statt dessen mit ihren Samplingmaschinen aus dem angehäuften Musikarchiv der Jahrhunderte ausschneiden, was fürs Museum oder schlimmer noch: fürs Vergessen eigentlich viel zu schade ist.