ALLES ERINNERN

Eine Frage möchte ich heute ansprechen, die mich seit vielen Jahren bewegt und immer noch auf eine klare Beantwortung harrt: Gibt es so etwas wie ein universelles Gedächtnis ? Haben Systeme ein Gedächtnis, welches relativ unabhängig von den einzelnen Elementen des Systems existiert und funktioniert?


Um es vorweg zu nehmen: Ich glaube, dass es so etwas gibt, und ich achte auf Erfahrungen und Gedankengänge, welche diese Vorstellung belegen oder zumindest unterstützen. Ich glaube, es gibt Menschen, welche Dinge einfach wissen, ohne sie im persönlichen Leben erfahren zu haben, zumindest nicht mit den herkömmlichen Sinnen.


Es gab einen indischen Mathematiker, der Formeln notierte, ohne sie zunächst herleiten zu können. Befragt, wie er darauf gekommen wäre, erzählte er, dass seine Götter ihm dies im Schlaf diktierten.


In diesem universellen Speicher scheint die Trennung von Gegenwart und Zukunft nicht so scharf zu sein wie in der uns vertrauten Welt. Es gibt Menschen, die wissen mehr von der Zukunft, als sie sich vielleicht zufällig hätten ausdenken können. Oft sind Träume die Pforten zu diesen anderen Wissensräumen.

Cato BONTJES van BEEK z.B. träumte viele Jahre zuvor ihre eigene Hinrichtung, wie sie dann am 5. August 1943 in Berlin Plötzensee tatsächlich geschah. Auch meine Mutter hatte einmal einen Traum, der ganz exakt unmittelbar Zukünftiges vorwegnahm.


Es gibt Menschen, die vertrauen diesem Wissen aus nicht ergründbaren Räumen mehr als allem anderen. Auf ganz wunderbare Weise wird dies in KLEIST’s Käthchen von Heilbronn dargestellt. Ich erinnere zwei herrliche Aufführungen dieses Schauspiels, einmal in München (1961/1962) und viel später auch im Frankfurter Schauspielhaus.


KATHARINA VON SCHWABEN


„Stell Dir vor Du schläfst, und im Schlaf hast Du einen Traum, und in dem Traum steigst Du auf zum Himmel und dort pflückst Du eine seltsame und wunderschöne Blume. Und wenn Du dann aufwachst, hältst Du die Blume in der Hand. Na, wie wäre das ?“

COLERIDGE


Katharina erwacht mit einer Rose in der Hand

Tränen im Theater: Käthchen

Ein Spiel

Gespielte Realität

Ein Spiegel der Wirklichkeit

Doch realiter erlebt

Wie die Augen für Sekunden blind –

Wenn ein Blitz Himmel und Erde verbindet –

So schwindet ihr Bewusstsein beim Erleben

Unentrinnbarer Verbundenheit

Käthchen im Theater

Katharina in meinem Kopf

Und die Zeit ist wie ein stehendes Gewässer

Aus Tränen

Zeit zum Aufwachen – wacher werden auf dem Weg –

Auf dass die Suche nach der Rose beginne –


Es gibt auch einen faszinierenden Film, welcher diese seltsamen Verknüpfungen von Menschen miteinander über verborgene Raumzeiten hinweg zum Thema hat: „La double vie de Véronique.“ Wie soll man die Phänomene der Telepathie, des Gedankenlesens oder der medialen Kommunikation verstehen, ohne anzunehmen, dass es eine Art Kraftfeld oder einen großen Gedächtnisraum gibt, welcher zumindest einigen sehr begabten Mitmenschen zur Verfügung steht ?


Vor vielen Jahren habe ich ein Buch gelesen von Ervin LASZLO: Kosmische Kreativität. Neue Grundlagen einer einheitlichen Wissenschaft von Materie, Geist und Leben (1995 im Insel Verlag erschienen). Er entwirft in diesem Buch eine neue – auch physikalisch untermauerte – Theorie, welche viele der oben genannten Phänomene erklärte und ebenso die Paradoxa der modernen physikalischen Weltbilder einordnete.


Ich glaube, dass es so ähnlich sein könnte, wie Ervin LASZLO es beschreibt. Zögen die Menschen einige Konsequenzen aus diesem veränderten Weltbild, so würde sich einiges – aus meiner Sicht – zum Guten wenden. (Ob dieses Weltbild nun mehr stimmt als die anderen, spielte hierbei gar keine so große Rolle.)

Ich zitiere aus E. LASZLO’s Buch (p.284):


„Dies bedingt eine neue Dimension der Verantwortlichkeit menschlicher Wesen: was wir denken und fühlen, kann unsere Mitwesen beeinflussen, und zwar nicht nur diejenigen, die uns hier und jetzt nahestehen, sondern auch diejenigen an entfernten Orten und in kommenden Generationen.

Für die menschliche Erfahrung resultiert daraus eine Art Unsterblichkeit. Wenn sich die Gedächtnisinhalte einer Person nach ihrem Tod zurückrufen lassen, können ihre Erfahrungen wiedererlebt werden. Es ist also wahr, dass die Menschen durch die Erinnerungen fortleben, die wir von ihnen besitzen. Gedanken dieser Art sind mehr als unsere eigenen Erinnerungen an andere Personen, sie sind die Erfahrungen jener anderen Menschen , die von uns so wiedererlebt werden, als ob sie unsere eigenen wären.“

Am Ende dieses Kapitels bringt er diese seltsamen Vorstellungen in einem Satz auf den Punkt: „Es stimmt nicht, dass wir einen vom Gehirn abtrennbaren Geist besäßen; viel eher gilt, dass wir ein vom Universum untrennbares Gehirn besitzen.“ (p.285)


Dieser Aspekt der Hirnfunktionen wird im medizinischen und auch im alltäglichen Leben kaum wahrgenommen. Welch ein Reichtum an Möglichkeiten eröffnete sich uns, wen wir diese Wege der Kommunikation kultivierten ? Es müssten jedoch alle Sinne der Menschen gepflegt und geschärft werden, nicht nur die herkömmlichen und hinlänglich bekannten: Sehen, Hören, Schmecken, Riechen und mit dem Körper Fühlen; sondern auch – und dies viel mehr – die sieben Sinne der anderen Art – so nenne ich sie immer. Wir haben nämlich auch einen Sinn für das Schöne, für das Gute und für das Wahre; wir haben einen Sinn für den Unsinn (i.e. die Komik), einen Sinn für Kollektives (einen Gemeinsinn), einen seltsamen Sinn für die Zeit (für die Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft) und – dies ist vielleicht sogar der wichtigste: wir haben einen Sinn für Transzendenz, für alles, was unser Dasein überschreitet, für die Einflüsterungen aus anderen Welten.

Eine achtsame Pflege dieser Sinne der anderen Art sollte die wichtigste Aufgabe einer jeden Kulturgemeinschaft sein. Sinnesorgan wäre der ganze Mensch und Objekt der sinnlichen Wahrnehmung wäre der Kosmos, das All.


Ich glaube, dass diese Phänomene einer sehr engen Kommunikation auf allen Ebenen des Seins existieren, z.B. auch auf der Ebene einer einzelnen Zelle, z.B. einer Nervenzelle. Sie entnimmt ihre Handlungsanweisungen u.a. aus den ererbten Informationen im Zellkern und in den Mitochondrien. Sie wird informiert von anderen Nervenzellen; manchmal sind es Tausende (vielleicht sogar bis zu 80.000). Außerdem steht jede Nervenzelle über einige Umschalt- und Übertragungsstationen mit allen anderen in Verbindung. Sie wird überschüttet mit einer Flut von Informationen. Wahrscheinlich hilft das Licht dabei, aus diesem Chaos wieder Ordnung werden zu lassen in Form einer Antwort. Möglicherweise sind es Biophotonen, welche den Zellen helfen, die Situation zu beherrschen. Die Gesamtfunktion des Nervensystems geht einher mit der Bildung sehr komplexer und wandelbarer elektro-magnetischer Felder, welche wiederum von äußeren Feldern moduliert werden könnten.

Weiterhin wird das Geschick der Nervenzellen und der Verlauf ihrer Aktionen und Interaktionen ganz wesentlich bestimmt durch die Ergebnisse ihrer Funktionen selbst ( rückgekoppelt, selbstreferentiell): i.e. durch Emotionen und Gedanken, sowie durch die Geschichte dieser Empfindungen und Ideen, welche unsere Erinnerungen ausmachen. Wir haben nicht Erinnerungen; wir SIND Erinnerung !

Die tatsächlichen Abläufe des Geschehens werden durch all dies nicht hinreichend erklärt; es fehlt noch etwas. Und dies kann nur etwas Übergreifendes, Umfassendes, sehr Allgemeines, eben etwas Universelles sein.

Vielleicht passt hier hinein auch das kollektive Unbewusste, wie es C.G. JUNG meinte; hier sind wahrscheinlich Urbilder des Seins auf vielschichtige Weise wirksam.


Mir fiel jetzt ein Buch in die Hände von Gary E.R. SCHWARTZ und Linda G.S. RUSSEK. Es heißt: Alles erinnert. Wie zwei Wissenschaftler ein universelles, lebendiges und interaktives Gedächtnis entdecken; erschienen 2001 im VAK Verlag, Kirchzarten bei Freiburg.

Ich habe noch nicht allzu viel darin lesen können, aber ich glaube, dass die dort erläuterten Ideen meinen eigenen Vorstellungen sehr nahe kommen. Es kommt vor, dass man einen Menschen versteht, ohne dass ein Wort fällt, oder obgleich man seine Sprache nicht beherrscht.

Manchmal fühlen sich Menschen über Räume und Zeiten hinweg miteinander verbunden und ziehen Kraft aus dieser Verbindung. Entdeckungen werden zuweilen nahezu gleichzeitig von Menschen in ganz verschiedenen Ländern oder Kontinenten gemacht. Das universelle Gedächtnis stellt seine Informationen gleichzeitig allen zur Verfügung.


Derartige Phänomene sind nicht allein den Menschen vorbehalten; bei Pflanzen und Tieren gibt es das auch, wahrscheinlich überall im Universum. Es scheint ein „Bauprinzip“ des Kosmos zu sein.

Bei John DOWNER (Die Supersinne der Tiere) habe ich gelesen (p.186): „Alle 120 Jahre einmal brechen gleichzeitig und überall auf der Welt die Blüten des chinesischen Schirmbambus auf, verbreiten ihre Samen und sterben dann ab. Auch viele andere Bambusarten synchronisieren die Zeit ihrer Blüte. Ihre Ruhepausen umfassen allerdings andere Zeiträume, etwa 10, 20 und 90 Jahre.“ Wie zählt der Bambus seine Jahre ? Und wie teilt er das allen anderen auf der Welt mit ?

Bei Zikaden gibt es etwas ähnliches: Die ausgewachsenen Tiere treten regelmäßig in Massenschwärmen auf. „Die verschiedenen Zikadenarten leben unterschiedlich lange, aber interessanterweise beträgt der Zeitraum der Entwicklung vom Ei bis zum ausgewachsenen Tier immer eine Primzahl – 13 oder 17 Jahre !“

Welche indische Göttin hat wohl den Zikaden die Mathematik beigebracht ?


Wir sind weit davon entfernt, diese seltsamen Phänomene zu verstehen; vielleicht ist das auch gar nicht so wichtig – wenn dieses Wissen wenigstens dazu führte, etwas vorsichtiger und umsichtiger zu denken. Das Denken nämlich regelt das Geschick.


„There are more things in heaven and earth, Horatio,

Than are dreamt of in your philosophy.”

(Hamlet, Act I, Scene V)


Mögen alle, die sich in wegloser, schrecklicher Wildnis finden –

Die Kinder, die Alten, die Ungeschützten, die Umnachteten-,

Von gütigen Himmlischen beschützt werden.


Bis morgen verbleibt mit herzlichen Grüßen Ihr Jürgen Bohl