Alchemisten der Gegenwart

Nun, jetzt stehe ich vor der gleichen Situation, wie jeder andere, der in dieser Rubrik schon mal geschrieben hat. Worüber schreibt man bloß? Und auch die Frage: wie schreibt man?, hat Relevanz. Plaudere ich, was mir so gerade in den Sinn kommt oder gehe ich strikt wissenschaftlich vor? Machen wir es, wie mit den schmackhaften Knödeln: Halb und halb. Gedanken, die aus dem wissenschaftlichen Horizont heraus formuliert und in einem – wie ich hoffe – halb plaudernden Ton präsentiert sind, ohne der Plauderei gleich vollends zu erliegen. Manchmal lugt das wissenschaftliche Theorem aber nur durch die Hintertür hindurch. Ich bin gespannt, ob mir das Experiment gelingt. Der Konstruktivismus bzw. die Systemtheorie spielen in den nächsten Tagen stets wie untergründig eine gewichtige Rolle. Und immer wieder wird an musikalischen Beispielen anderes verdeutlicht.


Ich sehe mich für die nächsten Tage geworfen auf mich selbst, bin beim Schreiben Tag für Tag quasi unter Selbstbeobachtung gestellt, wo man sonst beim Verfassen wissenschaftlicher Texte von sich abzusehen sucht, um dem Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses hinreichend Geltung zu verleihen. Diese Selbstbeobachtung greift unmittelbar beim Gedanken an die kleine Rubrik, die ich kommende Woche füllen möchte. Mir scheint, das Prinzip der Selbstbeobachtung sollte grundsätzlich zur Pflicht gemacht werden, da dort, wo es gepflegt wäre, so leicht von Objektivität kaum die Rede mehr sein wird. Was wird nicht alles versucht in der Wissenschaft, um möglichst objektiv daherzukommen? Und wie leicht perlt einem das Wort „Objektivität“ über die Lippen, wo man einen vermeintlich harten Gegenstand untersucht. Sicher: alle Forscher wissen (na ja: fast jeder) um die Wechselwirkung zwischen Forscher und Objekt der Untersuchung, doch wie oft schleicht sich trotz dieses Wissens ein mehr oder weniger lautes „Ja, aber …“ ein, um die Objektivität doch noch zu retten. Und Rechenkünste, distinkte Ergebnisse und klar gegliederte Balkendiagramme in abschließenden Berichten sorgen dafür, dem eigentlich verloren gegangenen Objekt seine ihm zugedachte Festigkeit wieder zu verleihen. Wie es dazu kommt, ist leicht erklärt: Der „Glaube“ an die Magie der Zahl lässt leicht berechnete Möglichkeiten zu festen Eigenschaften gerinnen und damit verwechseln. Ist der Gegenstand von Forschung kein naturwissenschaftliches „hartes“ Phänomen, sondern ein ganz normaler Mensch, werden die Rechenanstrengungen verdoppelt und muten zuweilen an wie eine undurchschaubare, der Alchemie vergleichbare Geheimwissenschaft, die zum Glaubensdogma geworden ist. Die kalkuliert erzeugte Komplexität durchdringen nicht einmal mehr die Forschenden selber, und die aus ihr abgeleiteten Ergebnisse sprechen endlich eine so klare Sprache, dass kaum einer mehr wirklich fragt, wie die Ambivalenz und das analoge Sein des Menschen zu digitalen Zahlenereignissen hatte werden können.


***

Während ich dies schreibe, sitze ich mit meinem Laptop auf dem Schoß in einem ICE und schaue auf den verschneiten Bahnsteig von Warburg, umgeben von einigen Artverwandten, die mir teils sympathisch, teils weniger sympathisch scheinen. Ich fühle also, wie die Selbstbeobachtung mich ergriffen hat, fühle, dass ich mir selbst zu einem kleinen Problem geworden bin, weil ich mich, imaginär betrachtet, interessiert angeschaut fühle. Wie ist es nun wohl, wenn mich meine Mitreisenden für sie bemerkbar interessierten und ich sie nach ihren musikalischen Vorlieben befragte? Allein durch mein Anliegen, würde ich es ihnen offenbaren, stelle ich doch auch sie unter Selbstbeobachtung, und flugs kann von neutraler Forschung schon keine Rede mehr sein, denn auch sie werden auf ein Problem gestoßen, das ihnen sonst keines ist: auf sich selbst. Sie müssen reflexiv sich Gedanken über Vorlieben machen, die sonst schlicht emotional gelebt werden. Schon ist auch für diesen Fall alle Objektivität zum Teufel.


Wenn ich dabei meine Mitreisenden einfach schildern ließe, was ihnen warum gefällt, habe ich das Problem der Interpretation von unterschiedlichen Äußerungen, die auf einen Nenner zu bringen wären. Damit das gelingt, muss der wissenschaftlich motivierte Frager die Vielfalt von in den Raum gestellten Begriffen für sich definieren und zur Eindeutigkeit hin definieren. Der Forscher steht also im Zentrum und weniger die Befragten. Und das Ergebnis wäre eine Psychoanalyse des Forschers, böte aber mitnichten verlässliche, gar objektive Aussagen über Musikpräferenzen der Befragten.


Aus dem mp3-player neben mir dröhnt eine stark gitarrenorientierte Musik. Das entspannte Gesicht zwischen den beiden Ohrenstöpseln schaut versonnen durch die Gegend. Manchmal zeichnen die Gesichtsmuskeln den Verlauf einiger Gitarrensoli oder rhythmischer Verläufe nach: quasi ein Gesamtkunstwerk der Mann! – handelt es sich doch um ins gestisch-bewegte Bild gesetzte Musik. Schräg gegenüber sitzt auch jemand und spielt mit dem Lautstärkeknopf seines mp3-players, vielleicht in der Hoffnung, trotz Kopfhörer doch das ganze Abteil Anteil an seiner Musik nehmen und sie mitjubilieren zu lassen. Leider tut er das ungefragt. Das Gesicht schaut mittelalterlich. Befragte ich beide, was sie gerade hören, bekäme ich wohl Gruppennamen genannt und bei weiterem Nachfragen Musikstile. Sie könnten solche Angaben natürlich alternativ auch auf einem vorgegebenen Fragebogen eintragen. Vielleicht sagten beide oder kreuzten an: Heavy Metal. Als Forscher würde ich mich freuen und beide in die gleiche Spalte meines Musikpräferenz-Erhebungsbogens sortieren. Aber Vorsicht! Meinen denn beide damit eine ähnliche, gar vergleichbare Musik, wenn sie „Heavy Metal“ sagen? Denn heute, wo es neben Heavy Metal noch Trash Metal, Speed Metal, Doom Metal, Gothic, Hard Rock u.a.m. gibt, kann der Terminus Heavy Metal eine sehr andere Musik meinen, als die, die vor 30 Jahren ohne größere Stil-Differenzierung unter diesem Terminus firmierte. Im Übrigen ist bei dieser Begriffsvielfalt selbst unter altersgleichen Jugendlichen es unklar geworden, welche Musik genau welchem Stil zuzuordnen ist. Die Grenzziehungen sind recht unscharf. Schon wieder geht die Objektivität flöten, und ein so ermitteltes Ergebnis böte keine Skala der musikalischen Vorlieben von Mitmenschen, sondern eine Gemengelage von Musikstilen, die sehr problematisch hier und dorthin unter Termini sortiert sind, die nicht passen müssen.


So eine Befragung unter meinen Mitreisenden würde bislang sehr kognitiv verfahren und das in einem Bereich, in dem es um Emotionen geht. Das verfälscht Ergebnisse. Um dem erkannten Problem aus dem Weg zu gehen, könnte ich mit dem Gedanken spielen, meinen Mitreisenden einzelne, Emotionen weckende Musiktitel vorzuspielen, und sie dann auf einem Bogen ankreuzen zu lassen, was ihnen wie gefiele. Mit Spannung begännen meine Mitreisenden sich die kurzen Klangbeispiele (na hoffentlich habe ich mit 30 s. die Ausschnittsdauer nicht zu kurz gewählt? – ein weiteres Problem) anzuhören und engagiert anzukreuzen. Nach dem 25. Titel würden sie aber wohl langsam die Lust verlieren, das Engagement wäre dahin und die Wertigkeit der Angaben nicht mehr zu vergleichen mit der vom Beginn. Um diesem Engagements- und auch Aufmerksamkeitsverlust vorzubeugen, beschränkte ich mich auf 20 repräsentative Titel, die aus der vermuteten Zahl von 4 oder 5 Millionen möglicher Musiktitel ausgewählt wurden und für diese stehen sollen. Was ist also ein repräsentativer Titel? Mag der junge Mann neben mir überhaupt „den“ Heavy Metal-Titel, den ich ausgesucht habe? Vielleicht habe ich ja gerade seinen „Hass“-Titel ausgesucht, und er käme nie auf die Idee, obwohl er ständig verzerrte Gitarrenmusik hört, sein Kreuz an dieser Stelle zu machen. Und so müsste ich meine Forschung eigentlich umbenennen. Nicht die Musikpräferenzen von Mitreisenden ermittle ich, sondern ich ermittle – wenn überhaupt –, wie Mitreisende auf meine persönliche Auswahl von Musik reagieren und ob sie ihnen gefällt. Wieder einmal stünde „ich“ im Zentrum der Forschung, wo ich eigentlich die anderen erforschen wollte. Dumm gelaufen halt.


Es ist recht kalt im Abteil. Ob meine Abteilgenossen und –genossinnen zu einer anderen Zeit, morgen vielleicht, unter anderen Bedingungen (wärmer vielleicht) eine andere Musik aus meinen ausgewählten Titeln begrüßten, ablehnten und ob sie die Kreuzchen anders verteilten? Das ist nicht unwahrscheinlich, denn der Mensch ist ein ziemlich wankelmütiges Tier, von seinen Launen und augenblicklichen Befindlichkeiten (Bauchweh, Glücksgefühl etc.) abhängig.


***

All diese Probleme kennen natürlich mit jener Forschung Befassten. Auf Deubel komm raus werden daher Längsschnittanalysen, Querschnittanalysen, Vergleichsgruppen, all mögliche Rechenverfahren ersonnen, kombiniert, Ergebnisse in alle Richtungen hin korreliert, und am Ende ist das Subjekt in dem Zahlenwust glücklich verschwunden. In dieser ganzen, fast der Alchemie verwandten Zahlenzauberei ist auf wundersame Weise die ersehnte Objektivität sodann wiederauferstanden. Der Alchemie ist es nie gelungen, Blei in Gold zu verwandeln. Da sind die heutigen Rechen-Zauberkünstler viel, viel weiter: Zwar gelingt es ihnen in ihrem Forschungsbereich auch nicht, subjektive Befindlichkeiten in objektive Zustände zu verwandeln, aber zumindest suggerieren sie dies sehr erfolgreich, und das ist doch schon was! Dahinter steht aber kein böser Wille von Forschenden: Denn auch sie selber sind ihrer Zahlenzauberei erlegen, und sie glauben ganz fest, dass ihre eigentlich erfundenen Ergebnisse vorgefundene wären. Wie könnte man daran auch zweifeln, wo Zahlen doch so eindeutig und klar daherkommen. Und anders als im Augenblick aufgrund der besonderen Situation meine Person, haben sie nicht das Gefühl, unter Selbstbeobachtung zu stehen; sie glauben im Zuge des blinden Fleckes tatsächlich, dass sie den fokussierten „Gegenstand“ ergründen, was dazu führt, dass sie in ermittelten Ergebnislagen nicht die Psychoanalyse des Selbst und die implizit mitlaufende Gefallsucht gespiegelt sehen.