Advent – das Unerwartbare erwarten

Am 23. Januar 1953 wurde am Théâtre de Babylone in Paris das Stück „Warten auf Godot“ uraufgeführt. Samuel Beckett benutzt mit Godot eine im Französischen gebräuchliche „Verniedlichungsform“, die – ähnlich wie Pierrot von Pierre – hinter Godot Gott vermuten lässt: Wir warten auf Gott – aber Gott kommt nicht. Er ist uns irgendwie abhanden gekommen. Und deshalb wissen wir mit dem Advent – die erste Zeit im neuen Kirchenjahr – abseits schlechter Folklore auch nicht so recht, was wir damit anfangen sollen. Gott ist gänzlich unerwartbar – worauf sollen wir da noch warten?


Nach dem Verschwinden Gottes ist die Welt sicherlich nicht besser geworden. Es gibt Menschen, die fliegen zum Mond und überleben es, aber es gibt mehr Menschen, die bleiben auf der Erde und überleben es nicht. Und wo man nur hinschaut, ist die Sehnsucht riesengroß, dass das Leben mehr bereithält: in den Familien, in Beziehungen, in Organisationen und selbst in der Kirche. Eine ganze Schar von Therapeuten und Beratern lebt davon. Wenn man nichts mehr anerkennt oder für möglich hält oder für erwartbar, das größer ist als man selber, größer als die eigene Rationalität (oder die des aufgeklärten Zeitgeistes), oder größer als ein amerikanischer Präsident oder als ein Problem, das man hat – dann ist man buchstäblich auf seine eigenen Grenzen zurückgeworfen (oder auf die eigene Hybris) oder auf die Macht der Mächtigen.


Mit dem Verschwinden Gottes ist uns eine sehr wichtige Unterscheidung abhanden gekommen, auf die zu verzichten, einen hohen Preis fordert. Denn, um überhaupt wichtige andere Unterscheidungen treffen zu können (z.B. so weitreichende Unterscheidungen wie arm und reich, Nord und Süd, gerecht oder ungerecht), muss es einen Anfang allen Unterscheidens geben. Spencer Browns Logik erfordert eine ununterscheidbare Unterscheidung als Anfang, irgendeine Unterscheidung, die nicht durch ihren Unterschied zu anderen Unterschieden bestimmt ist. Anders kann das Operieren nämlich nicht wirklich anfangen. (Luhmann) Wenn man will, kann man hier Gott wieder ins Spiel bringen. Oder möglicherweise bringt er sich so selber ins Spiel.


Das ist das Wesen von Advent und Weihnachten: Gott bringt sich ins Spiel, er wird Mensch. Das ist gänzlich unerwartbar. Und es bedarf einer Entscheidung, diese Unterscheidung zu treffen. Aber jede Entscheidung beginnt eine neue Geschichte. Und es ist es nicht das, wonach wir uns sehnen?