11.9.

Der folgende Beitrag wurde anlässlich einer Fernsehdiskussion im ZDF-Nachtstudio am 7. 3. 2003, wenige Tage bevor George W. Bush seine "Mission accomplished-Rede" hielt, auf der Auer-Website publiziert und ist abgedruckt im Buch "Tödliche Konflikte", 2. Auflage 2004.


Da er leider noch aktuell ist, stelle ich ihn aus Anlass des 11.9. hier noch mal ins Netz:


Ein Angriff auf die USA?


Als am 11. September 2001 zwei voll betankte Verkehrsflugzeuge das World Trade Center in New York rammten, ein drittes das Pentagon in Washington traf, und ein viertes in Pennsylvania gewaltsam zum Absturz gebracht wurde, sah Amerika sich angegriffen. Der Feind war schnell identifiziert: die Gruppe Al-Qaida und ihr Führer Osama bin Laden. Die Berichterstattung der amerikanischen Fernsehanstalten lief – wie beispielhaft auf CNN – unter dem Etikett „Americas New War“.

Doch ist das, was da geschehen war, als kriegerischer Akt zu verstehen? Orientiert man sich am traditionellen Verständnis des Krieges zwischen Nationen, so handelte es sich um keinen Angriff im Rahmen eines Krieges, sondern um ein schlichtes Verbrechen. Was geschehen ist, läßt sich nicht in Kategorien des Völkerrechts erfassen. Es ist keine Frage des Kriegsrechtes, weil keine Nationen oder ihre Vertreter Amerika den Krieg erklärt haben. Legt man hingegen die in dieser Studie verwendete Definition zugrunde, so war es aber doch der Beginn eines Krieges: Al-Qaida gegen Amerika oder gar gegen die westliche Welt. Zwei Überlebenseinheiten, eine Gruppe islamischer Kämpfer und ein Staat, sind in einen Konflikt verwickelt, der die Existenz beider aufs Spiel setzt. Existenz ist dabei nicht im physischen Sinne zu verstehen, sondern im Blick auf das moralische überleben, den Erhalt der jeweiligen Identität, der Selbstbeschreibung und Selbstachtung. Folgt man der Personalisierung, die inzwischen allgemein vollzogen wird, so hat ein einzelner Mann, Osama bin Laden, Amerika als Repräsentanten eines von ihm bekämpften Lebensstils den Krieg erklärt. Auch das kann als Krieg betrachtet werden, allerdings einer, der den tradierten Schemata des zwischenstaatlichen Krieges nicht mehr entspricht. Es ist sicher kein „trinitarischer“ Krieg, bei dem Nationen miteinander kämpfen und klare Konventionen für die Unterscheidung zwischen Regierung, Bevölkerung und Soldaten bestehen, sondern ein „Low Intensity Conflict“, bei dem irgendwelche anderen sozialen Einheiten oder Gruppen („Terroristen“) Regierungen den Krieg erklären.


Es ist kein Krieg, in dem es um die Eroberung eines räumlichen Territoriums geht, sondern es gilt, einen immateriellen Raum zu besetzen: die „Herzen“ von Menschen (um es in einer wissenschaftlich wenig präzisen, dafür aber in seinem emotionalen Gehalt am ehesten passenden Weise, auszudrücken). Es geht um die Moral der Bevölkerung, ihre Demoralisierung, Begeisterung oder Entgeisterung.


In diesem Kampf scheinen die Amerikaner wenig Chancen auf einen Sieg zu haben, obwohl am 11. September alle Welt die Sympathie mit ihnen signalisierte. Sogar Jassir Arafat spendete Blut für die Opfer des Anschlags. Doch die amerikanische Regierung war – so konnte man, wenige Wochen später, feststellen – nicht in der Lage, diese Situation zu nutzen und die Attentäter und ihre Helfer weltweit ins Abseits zu stellen; sie nahm die „Einladung“, sich in einen blutigen Krieg zu verwickeln, an. Das wäre an sich noch kein Problem, wenn dieser Krieg gewonnen werden könnte. Denn Kriege haben durchaus ihre Funktionalität – allerdings nur unter einer Bedingungen: Es muß die Möglichkeit des Sieges geben. Das ist aber im Kampf mit einem weit verzweigten Terrornetzwerk nicht der Fall.


Doch blicken wir auf die Zeit unmittelbar nach dem Anschlag zurück:


Die Äußerungen des amerikanischen Präsidenten George W. Bush am 11. September und in den Tagen danach demonstrieren in geradezu lehrbuchreifer Weise ein Weltbild, das die Komplexität der Situation auf die emotional relevanten Unterscheidungen zwischen gut und böse, stark und schwach sowie aktiv und passiv reduziert. Er verwendete – buchstäblich! – die Terminologie des Wildwestfilms: „Wir werden die Terroristen in ihren Löchern ausräuchern. Jene, die Krieg gegen die USA führen, haben ihre eigene Zerstörung gewählt.“


Ob dies Ausdruck der emotionalen Reaktionen des Präsidenten war oder kühl kalkuliert auf Anschlussfähigkeit bei der amerikanischen Bevölkerung zielte, wird sich wohl kaum mehr feststellen lassen. Auf jeden Fall hatte es zur Folge, dass sich die amerikanische Bevölkerung solidarisierte und in eine Art nationalistischer „Und-dennoch“- oder „Jetzt-erst-recht“-Haltung verfiel. Es kam zur emotionalen Gleichschaltung der überwiegenden Zahl der US-Bürger (wenn man den Meinungsumfragen glauben darf). Die Produktion von Fahnen erreichte ungeahnte Ausmaße, und der Präsident sprach aus, was alle glauben wollten: „Amerika ist die großartigste aller Nationen.“ Die damit verbundenen verbalen Drohgebärden hatten aber über den Effekt des „Singens im Walde“ hinaus auch noch die Wirkung, dass mit ihrer Hilfe der unmittelbare Handlungsdruck auf die Regierung zunächst verringert wurde. So konnte beim außen stehenden Beobachter die Hoffnung aufkommen, dass der vereinfachenden Terminologie differenzierte Überlegungen und Vorbereitungen für eine besonnene Reaktion auf die Anschläge entgegenstanden.


Kalkuliert man mit der generellen Tendenz von Kriegen, zu einer Zweiteilung der Welt zu führen, so bestand die Herausforderung für die politisch Verantwortlichen in den USA (aber auch im Rest der Welt) darin, die Entstehung solch einer Bipolarität zu verhindern oder sie zumindest unwahrscheinlicher zu machen. Die öffentlichen Auftritte des amerikanischen Präsidenten gaben in dieser Hinsicht widersprüchliche Signale: Einerseits zeigte er sich wenige Stunden nach dem Attentat in einer Moschee, um zu demonstrieren, dass er nicht den Islam oder die muslimische Welt insgesamt als Feind betrachte, andererseits ließ er in seiner Definition der Weltlage keine dritte, neutrale Position zu: „Jedes Land muss sich entscheiden: Entweder ihr seid für uns oder für die Terroristen.“ Das Interpretationsschema, das er an die Welt herantrug, war binär und folgte damit dem klassischen und innerhalb der Logik von Kriegen fatalen Entweder-oder-Muster.

Es gelang zunächst, eine „Allianz gegen den Terrorismus“ zu schmieden, die nicht der Unterscheidungslinie islamische Welt/westliche Welt folgte. Mit Ausnahme Afghanistans und des Irak verurteilten auch fast alle islamischen Staaten die Anschläge vom 11. September.


Die offizielle Terminologie änderte sich in den Tagen und Wochen nach dem Anschlag. Zunächst sollte der Gegenschlag noch „Grenzenlose Gerechtigkeit“ heißen, was wohl als Hinweis darauf gewertet werden kann, dass die Amerikaner sich nicht nur als Opfer sahen, sondern auch vorhatten, die Rollen des Anklägers, Richters und Vollstreckers zu übernehmen. Ein Beziehungsangebot, das innerhalb der Vergeltungslogik von Kriegen üblich ist. Wiederum konnte die Rücknahme derartiger programmatischer Formulierungen als Hinweis darauf betrachtet werden, dass intelligentere Formen der Konfliktbewältigung gesucht wurden als bloße Demonstration der eigenen Macht – die durch die Anschläge ja symbolträchtig infrage gestellt war.


Da die Taliban-Regierung in Afghanistan den Drohungen der USA widerstand und verkündete, bin Laden nicht ohne Beweise für seine Schuld ausliefern zu wollen, verschärfte sich der Ton des Präsidenten: „Vor über zwei Wochen habe ich den Taliban eine Reihe klarer und detaillierter Forderungen gestellt. Keine wurde erfüllt. Und jetzt werden die Taliban dafür den Preis bezahlen.“ Auch wenn nun in den Fernsehkanälen nicht mehr von Amerikas neuem Krieg, sondern vom „War Against Terrorism“ die Rede war, wurde die Konfliktlinie zunehmend verändert. Nicht mehr al-Qaida war der identifizierte Gegner, sondern das Taliban-Regime. Als Name der geplanten Operation wurde nach mehreren Fehlversuchen schließlich „Dauerhafte Freiheit“ gewählt, was offenbar suggerieren sollte, es gehe bei dem zu führenden Krieg nicht um Vergeltung und nicht um bin Laden oder al-Qaida, sondern um die Befreiung Afghanistans vom Joch der Taliban.

Um die Unterscheidung zwischen Regime und Bevölkerung zu verdeutlichen, wurden nicht nur entsprechende Deklarationen abgegeben, sondern auch – als Kommentar zu den Bomben gewissermaßen – Lunch-Pakete mit Peanutbutter, Plastikbesteck und Schokoriegeln abgeworfen. Für diejenigen, die mit beidem bombardiert wurden, zumindest eine doppelte Botschaft (wenn man einmal die Geschmacksfrage ganz beiseite lässt).


Mit dem Beginn amerikanischer Kampfhandlungen in Afghanistan, die eher dem traditionellen Kriegsschema folgten, nahm der Trend zur Zweiteilung der Welt, zur Etablierung des Entweder-Freund-oder-Feind-Musters zu. Auf diese Weise wurden aus den keineswegs amerikafreundlichen Kämpfern der so genannten Nordallianz die Verbündeten Amerikas (so wie es die Taliban früher – einem ähnlich schlichten Schema folgend – ja auch einmal „waren“).


Nicht gewinnbare Kriege


All dies wäre in Kauf zu nehmen, wenn es wirklich eine Aussicht gäbe, einen „Krieg gegen den Terror“ zu gewinnen. Kriege sind Interaktions- und Kommunikationssysteme, bei denen es um Beziehungsdefinitionen geht. Und sie enden erst dann, wenn die beteiligten Partner sich darüber einig sind, dass sie zu Ende sind. Das ist im Allgemeinen der Fall, wenn eine Partei kapituliert und sich als Verlierer definiert. So kommt es zur paradoxen Situation, dass der Schwächere bestimmt, ob der Stärkere der Gewinner ist. Der vermeintlich Überlegene kann diese Beziehungsdefinition nur erzwingen, wenn er tatsächlich in der Lage ist, den Gegner zu vernichten. Das kann in Duellsituationen der Fall sein, in der zwei Personen sich Auge in Auge gegenüberstehen. Der eine Kontrahent kann dabei den anderen töten, was seinen Sieg besiegelt. Dasselbe gilt für den traditionellen Krieg zwischen Nationen, bei dem die Regierungen legitimiert sind, die Kapitulation ihres Landes zu erklären.

Ganz generell gilt, dass beide Kontrahenten das Vetorecht gegenüber dem Frieden haben.


Da Vernichtung oder Kapitulation das Ende des Krieges definieren, können Kriege nur dann beendet werden, wenn man es mit einem vernichtbaren Gegner zu tun hat. Handelt es sich um eine Gemeinschaft, die sich nicht territorial oder durch individuelles Überleben definiert, sondern ideell, so gibt es keine „Endlösungen“. Es reicht, wenn irgendjemand sich an die Identität stiftenden Ideen oder Werte erinnert – nach langer Zeit vielleicht –, um die jeweilige soziale Einheit zu reanimieren und wieder erstehen zu lassen. Deshalb sind auch nach mehr als 70 Jahren sowjetischer Herrschaft die Kirchen in Rußland innerhalb kürzester Zeit wieder lebendig geworden. Und aus diesem Grund gehen auch auf dem Balkan die Kriege seit Jahrhunderten immer weiter, auch wenn sich keiner mehr an ihre Anfänge erinnert.


Im Falle des Krieges der Organisation al-Qaida und Osama bin Ladens gegen die USA ist die Situation ähnlich. Zum einen ist die Partei der Feinde Amerikas ideell definiert und findet wahrscheinlich mit jedem eingefangenen Aktivisten einige neue Mitstreiter. Zum anderen handelt es sich bei al-Qaida offenbar um eine netzwerkartige Organisation. Wo es keine hierarchische Organisationsform gibt, hat niemand die Kompetenz und Legitimation, zu kapitulieren. Wenn auch Dutzende autonomer Zellen ausgehoben sein mögen, so reicht es, wenn eine weitermacht. Und wenn tatsächlich, wie vermutet, mehr als 5000 Aktivisten ausgebildet worden sind, so ist es höchst unwahrscheinlich, alle zu erfassen. Obendrein wirken die Militäraktionen gegen Afghanistan und nun auch noch der Krieg gegen den Irak als Werbemaßnahmen für al-Qaida. Sie führen aller Wahrscheinlichkeit nach zu einem verstärkten Zulauf, aus einer Geheimorganisation wird eine Bewegung.

Die Entstehung solcher Bewegungen lässt sich massenpsychologisch relativ einfach erklären. Eine Gruppe oder ihr Führer artikuliert die Befindlichkeit eines großen Teils einer Bevölkerung und verspricht eine erstrebenswerte Zukunft. Verkündet wird eine Vision, für die es sich zu leben lohnt. Und zu leben lohnt sich meist nur für die Werte, für die es sich auch zu sterben lohnt.

Die Botschaft Osama bin Ladens, die er über den Fernsehsender al-Jazeera der Welt an dem Tag verkündete, als die Bombardierung Afghanistans begann, ist schlicht und unmissverständlich: „Ich schwöre beim mächtigen Gott, der den Himmel ohne Säulen geschaffen hat, dass die USA und die Leute, die in den USA leben, niemals von Sicherheit träumen können oder diese erleben, bevor wir diese nicht auch tatsächlich in Palästina erleben und bevor alle ungläubigen Truppen vom Boden Mohammeds (des Propheten) verschwunden sind.“ All dies wurde von einem Mann, der in keiner Weise dem Klischee des Gewalttäters oder Marodeurs entspricht, in der Manier eines gütigen Erzählers vorgetragen. Er blickte ernst und konzentriert in die Kamera, sein Gesichtsausdruck war zart, eher weiblich. Wer hätte ihm nicht spontan die Verantwortung für eine Kindergartengruppe anvertraut?


Glaubt man seinen Worten, so ist der Grund des Krieges erlebte Demütigung: „Was Amerika heute erlebt, erleben wir seit Jahrzehnten.“ Und George W. Bush demonstriert daraufhin Hochmut.


Kriege werden – wie die Betrachtung der Weltgeschichte nahe legt – nun einmal nicht wegen materieller Güter geführt, sondern um der Ehre willen. Wer sich in einer asymmetrischen Beziehung sieht und seine Position als Unterworfener, Unterdrückter, Erniedrigter (lauter räumliche Oben-unten-Metaphern) nicht akzeptiert, kann denjenigen herausfordern, der sich ihm gegenüber hochmütig und überheblich zeigt und sich überlegen und höher stehend wähnt. Er kann ihm den Krieg erklären oder ihn überraschend angreifen. Und dann gilt: Wer kämpft, hat schon gewonnen! Denn durch den Krieg wird Symmetrie in der Beziehung der kämpfenden Parteien hergestellt.


Das dürfte es sein, was Osama bin Laden und in abgeschwächter Form wohl auch Saddam Hussein für die Bevölkerung der islamischen Staaten, vielleicht auch darüber hinaus für die Bewohner anderer Länder der so genannten Dritten Welt so attraktiv macht. Sie versprichen das Ende der Oben-unten-Unterscheidung zwischen dem Westen und dem Rest der Welt.

Dass der „Krieg gegen den Terror“ einseitig zu beenden ist, dürfte eine Illusion sein. Man war zwar erfolgreich dabei, die Taliban zu entmachten und zu verjagen – schon weil sie es im Laufe der letzten Jahre geschafft hatten, sich aufgrund ihrer Unterdrückung bei der eigenen Bevölkerung verhasst zu machen. Aber die Taliban sind nicht al-Qaida, d. h., sie sind nicht mit denen gleichzusetzen, die Amerika den Krieg erklärt haben. Die haben auch nach einer Niederlage der Taliban noch nicht verloren. Ihre Vorteile in der Auseinandersetzung mit dem Westen sind weiter ungetrübt. Die Verletzlichkeit unseres westlichen, globalisierten und weit vernetzten technischen und ökonomischen Systems gibt denjenigen, die den Status quo der Überlegenheit des Westens nicht akzeptieren wollen, eine ungeheure Macht. Den Frieden zu stören und dafür zu sorgen, dass Amerika bzw. alle Länder, die mit dessen Way of Life identifiziert werden, keine ruhige Minute haben, ist erheblich preiswerter zu erreichen als der reibungslose Ablauf des bis zum 11. September 2001 als „normal“ erachteten Lebens. Die Kosten, die benötigt werden, um einen Gebäudekomplex wie das World Trade Center zu errichten, stehen in keinem Verhältnis zu den aufgewandten Abbruchkosten (einige Flugtickets, eine halbe Pilotenausbildung – ohne Start und Landung – sowie eine Hand voll Teppichmesser als Waffen der Entführer).


Angst und Schrecken und ein diffuses Gefühl der Bedrohung zu erzeugen ist in Zeiten massenmedialer Runduminformation schon durch das Versenden von Couverts mit weißem Pulver möglich. Die Reaktionsmöglichkeiten des Staates sind begrenzt. Die freiheitlich-demokratische Grundordnung ist deshalb bislang so erfolgreich gewesen, weil sie auf Vertrauen statt Kontrolle als Möglichkeit der Komplexitätsreduktion gesetzt hat. Dass Kontrollsysteme schon aus rein ökonomischen Gründen langfristig wenig Überlebenschancen haben, hat der Großversuch mit dem so genannten real existierenden Sozialismus erwiesen. So könnte denn al-Qaida ihrem Ziel, die westliche Gesellschaftsordnung infrage zu stellen und zu verändern, gerade dadurch näher kommen, dass der Westen zunehmend Kontrollsysteme etabliert und sich dabei in der Paradoxie verstrickt, um des Erhalts der Freiheit willen, die Freiheit einzuschränken.


Ein weiterer Machtfaktor spricht für den Erfolg der Attentäter und ihrer Gesinnungsgenossen. Da sie einen religiösen Hintergrund haben und sich nicht an diesseitigen Werten orientieren, sind sie im Prinzip keinen weltlichen Machtmitteln unterworfen. Macht beruht darauf, dass in einer Beziehung die eine Partei der anderen gegenüber die größeren Sanktionsmöglichkeiten (sei es positiv oder negativ) hat; im Extremfall ist die Drohung mit körperlichem Schmerz oder Tod das ultimative Machtmittel. Selbstmordattentäter sind in dieser Hinsicht offensichtlich nicht zu bezähmen. Das Versprechen des Paradieses lässt alle diesseitigen Sanktionen bedeutungslos erscheinen. Der Krieg wird zum religiösen Akt, zum Gottesdienst, zur Verschmelzung mit einer höheren Macht. Er beantwortet alle Sinnfragen. Wenn es überhaupt einen persönlichen Grund gibt, sein Leben im Kampf zu opfern, dann für religiöse Ziele.


Der Versuch aus einem Low Intensity War einen traditionellen Krieg zu machen


Was kann man tun in einem Krieg, den man nicht gewinnen kann?


Die theoretisch interessanteste (und möglicherweise weiseste) Option für die US-Administration wäre es gewesen zu „kapitulieren“, sich den Forderungen Osama bin Ladens zu unterwerfen, die amerikanischen Truppen aus Saudi-Arabien abzuziehen und das ganze politische, amerikanische Gewicht für eine friedliche Lösung des Palästina-Israel-Konfliktes in die Waagschale zu werfen. Das war aber innenpolitisch vollkommen unrealistisch, schließlich war durch die Anschläge die Identität der USA in einer bis dahin ungekannten Weise angegriffen und in Frage gestellt worden.


Eine alternative, in dieser Situation nahe liegende, Möglichkeit war es daher, aus einem nicht aktiv vernichtbaren oder kapitulationsfähigen Gegner einen traditionellen Feind, wie er für einen trinitarischen Krieg benötigt wird, zu machen. Das fiel in diesem Fall nicht schwer, da Osama bin Laden eng mit den Taliban in Afghanistan verbunden war, seine Trainingscamps im Lande hatte usw. Ein Krieg gegen Afghanistan bzw. das dortige Regime konnte zum Bestandteil des „Krieges gegen den Terror“ erklärt werden. Diese Lesart war so plausibel, dass die US-Regierung in ihrem Vorhaben einen Regimewechsel durchzusetzen weltweite Unterstützung erfuhr. Es kam unter Einsatz kiregerischer Gewalt zum Regierungswechsel, zumindest in der Hauptstadt Kabul und der näheren Umgebung. Aber dass es damit zum Sieg gegen den Terror gekommen ist, wird niemand behaupten wollen. Denn der vermeintlich Kopf der al-Qaide, Osama bin Laden, wurde ebenso wenig gefaßt wie der Führer der Taliban. Und bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass außerhalb Kabuls die Lage weit unübersichtlicher ist und nicht davon gesprochen werden kann, dass Afghanistan unter der Kontrolle irgendeiner identifizierbaren Regierung steht.

Was im Kampf gegen die Terroristen immer wieder zu Teilerfolgen führte, waren weniger kriegerische Aktivitäten, sondern polizeiliche und geheimdienstliche Ermittlungen. Sie ermöglichten die Festnahme etlicher prominenter Mitglieder des Terroristennetzwerks.


Aber die Metaphorik und Rhetorik des Krieges entfaltet ihre eigene Dynamik. Der Irak geriet schon wenige Tage nach dem 11. September in den Fokus der Aufmerksamkeit. Der amerikanische Präsident, George W. Bush, erklärte ihn zum Mitglied der „Achse des Bösen“ und damit zum potentiellen Kriegsgegner. In der amerikanischen Öffentlichkeit wurde konsequent ein Bild verbreitet, in dem es zur Identifizierung von al-Qaida und Saddam Hussein, dem irakischen Diktator, kam. So konnte erneut ein traditioneller Krieg als Baustein des „Krieges gegen den Terror“ geplant werden. Um die Bedrohung für die USA abzuwenden, wurde ein „preemptive strike“ gegen den Irak und sein vermutetes Arsenal von Massenvernichtungswaffen zu einem scheinbar logischen und notwendigen Schritt der Selbstverteidigung.


Trotz aller internationaler Kontroversen, Proteste und Widerstände begannen am 20. 3. 2003 amerikanische und britische Truppen ihren Angriff auf den Irak. Dass dieser Krieg vom Irak nicht zu gewinnen ist, scheint allen rationalen Beobachtern klar. Die technologische und materielle Überlegenheit der intervenierenden Truppen ist überwältigend. Dennoch zeigt sich bereits in den ersten Tagen, dass diese Überlegenheit nur auf dem Papier steht. Denn die irakischen Truppen zeigen sich widerstandsfähiger als erwartet. Zudem reagiert die Bevölkerung nicht mit der erwarteten Begeisterung auf die von den Amerikanern programmatisch „iraqi freedom“ genannte Besetzung des eigenen Landes. Auch hier zeigt sich, dass die Fakten unterschiedlich beschrieben, erklärt und bewertet werden können. Während die offiziellen Sprecher der USA die Unterscheidung „Unterdrückung“ vs. „Freiheit“ als die Unterscheidung anbieten, um die es in diesem Konflikt geht, interpretiert offenbar ein großer Teil der Irakis und ganz sicher der Weltöffentlichkeit, vor allem der Bevölkerung in den islamischen Staaten, den Konflikt im Sinne von Unterscheidungen wie „westliche Welt“ vs. „Islam“, „Hegemonie der USA“ vs. „Autonomie von Einzelstaaten“, d.h. „Unterdrückung“ vs. „Freiheit“ – nur dass die Positionen genau entgegen gesetzt zugewiesen werden: die USA als potentielle Unterdrücker, die Irakis als Freiheitskämpfer.


Diese widerstreitenden Wirklichkeitskonstruktionen verkomplizieren die Situation. Rein kriegstechnisch und strategisch zeigt sich dies in den ersten Tagen des Krieges unter anderem darin, dass die irakischen Truppen schon zu Taktiken greifen, wie sie üblicherweise erst nach der Besetzung eines Landes zu beobachten sind. Sie ziehen die Uniformen aus und agieren als Partisanen. Sie wenden Guerillataktiken an, sprengen als Selbstmordattentäter hilfsbereite amerikanischen Soldaten in die Luft.


Die Pointe an der Sache ist, dass sie damit den Versuch der US-Administration, aus einem „Low Intensity War“ einen „trinitarischen“ Krieg zu machen, ad absurdum führen. Wer gegen eine Weltmacht, die waffentechnisch so überlegen wie die USA ist, einen traditionellen Krieg führt, hat keine Gewinnchancen und handelt daher nicht rational. Doch dass die USA in einem Guerillakrieg zu besiegen sind, hat das Beispiel Vietnam bewiesen.


Aber wo sich die Frage von Siegen und Verlieren stellt, muß noch ein anderer Aspekt bedacht werden. Saddam Hussein geht es nach eigenen Aussagen nicht um kurzfristiges Überleben oder Gewinnen. Er sieht sich in einer historisch ganz anderen Liga spielend. Erst in 500 Jahren, so wird er zitiert, werde man sein Leistungen würdigen können. Unter dieser Perspektive hat er schon gewonnen. Er hat die Macht der USA gebrochen. Sie müssen, um sie zu restaurieren einen Krieg führen. Er hat ihnen – zumindest vorübergehend – eine symmetrische Beziehung abgetrotzt.


Und darum geht es in diesem Krieg: die Symmetrie zwischen den USA und den anderen Staaten der Welt. Die amerikanische Hegemonie wird nicht stillschweigend akzeptiert, wie die Stimmverhältnisse und Ad-hoc-Koalitionen im UN-Sicherheitsrat bei der Abstimmung über die Legitimierung der Invasion im Irak gezeigt haben.


Da mutet es fast komisch, aber eben doch auch bezeichnend an, dass Saddam Hussein etwa einen Monat vor Kriegsbeginn George W. Bush zu einem Fernsehduell herausgefordert hat (in der Manier amerikanischer Wahlkämpfe). Ein absurder Vorschlag, da es seine Anerkennung als „satisfaktionsfähig“ vorausgesetzt hatte. Jetzt ist das Fernsehduell ihrer Stellvertreter täglich auf den Schlachtfeldern zu beobachten. Und solange der Krieg nicht gewonnen ist, herrscht Symmetrie. Wer sie sucht, wie Saddam Hussein, hat mit Eröffnung der Kampfhandlungen schon gewonnen...


Die Zivilisierung der Konfliktlösung und die mögliche Rolle der UNO


Gewalt als Möglichkeit, Leben oder Gesundheit anderer Menschen zu bedrohen, ist die Basis der Entwicklung von Machtstrukturen. Die Drohung mit Gewaltanwendung ist ein Kommunikationsangebot, das von niemandem, dem sein Leben lieb ist oder der schemrzempfindlich ist, ignoriert werden kann. Sie bahnt den vorzivilisierten Weg zur Macht: Der Stärkere setzt sich durch. Hier liegen aber auch die Wurzeln des Staates im Rahmen der Evoulution der Weltgesellschaft.

Der Prozess der Zivilisation ist, wie Norbert Elias gezeigt hat, dadurch gekennzeichnet, dass sich soziale Strukturen entwickeln, durch welche die Macht des Stärkeren begrenzt wird. Gewaltanwendung wird von der konkreten Person gelöst, monopolisiert und schließlich staatlichen Organen zugewiesen. „Die Bedrohung, die der Mensch für den Menschen darstellt, ist durch die Bildung von Gewaltmonopolen einer strengeren Regelung unterworfen und wird berechenbarer. Der Alltag wird freier von Wendungen, die schockartig hereinbrechen.“ In dieser, den Terror der Gewalt beherrschenden Funktion gewinnt der Staat oder jede andere Organisation, die ihre Macht auf ein Gewaltmonopol stützen kann, ihre Komplexität reduzierende Wirkung. Das Vertrauen in eine derartige „höhere Macht“ und ihr Funktionieren entlastet jeden Einzelnen von der Sorge und Notwendigkeit, sich vor irgendwelchen, aufgrund ihrer potentiellen Gewalttätigkeit Stärkeren individuell schützen zu müssen. Das macht die Unterordnung unter derartige staatliche oder quasi-staatliche Strukturen ökonomisch sinnvoll und nützlich. Wer sich der Macht von Regeln unterordnet, wird für andere berechenbar. Seine Freiheit ist begrenzt, seine Reaktionen sind vorhersehbar, und er kann zur Rechenschaft gezogen werden, falls er sein Verhalten nicht selbst kontrolliert. Das ist der Grund dafür, warum ein Gewaltmonopol, dessen Vollzug durch Gesetze oder analoge Vorschriften geregelt und begrenzt ist und das ohne Ansehen des jeweiligen Akteurs praktiziert wird, als definierendes Merkmal für ein zivilisiertes soziales System betrachtet werden kann.


Was hier für die Beziehung zwischen Individuen und das „Recht des Stärkeren“ bzw. seine Begrenzung gesagt wurde, kann auch auf andere soziale Systeme wie die Beziehung von Staaten übertragen werden. Auch wenn es keine globalen staatlichen Strukturen gibt, so verfügen wir doch über Organisationen, die funktionell an ihre Stelle treten könnten. An erster Stell ist hier natürlich die UNO zu nennen. Deshalb waren die Verhandlungen des Weltsicherheitsrates über die Legitimierung eines Krieges gegen den Irak von solch entscheidender Bedeutung.


Das Resultat ist bekannt: Der Krieg wurde nicht explizit legitimiert. Die Resolution 1441 ist hinsichtlich der angedrohten Konsequenzen gegen den Irak im Falle seiner nicht ausreichenden Kooperation bei den Abrüstungs- und Kontrollbemühungen jedoch so vieldeutig, dass die Interpretation der „Koalition der Willigen“, die den Krieg begonnen hat, nicht von vornherein als absurd zu disqualifizieren ist.


Interpretiert man das Vorgehen der USA und der Briten als unilaterale und illegitime Gewaltanwendung, so ist dies ein Schritt weg von zivilisierten Strukturen, ein regressiver Versuch, das Recht des Stärkeren zu praktizieren, ohne Rücksicht auf die Regeln multilateraler Entscheidungsfindung. Doch solch ein unilaterales Hegemonialstreben, der Versuch, die Kontrolle über widerspenstige Andere zu gewinnen, ist auf Dauer nicht durchzuhalten. Um zu solch einem Schluß zu kommen, braucht man nicht moralisch oder ethisch zu argumentieren, sondern es reicht, rechnen zu können: Jeder Versuch, die Kontrolle über ein soziales System, dessen Mitglieder nicht einverstanden damit sind, zu erlangen oder zu erhalten, ist auf Dauer immer teurer als der ihre Bekämpfung, sei es in Form von Terrorakten oder auch gewaltfreien Widerstands.


Aus systemtheoretischer Perspektive kann also mit guten Gründen prognostiziert werden, dass die Stunde der UNO nach dem Ende des Irak-Krieges schlagen wird. Denn spätestens wenn die Kosten des Krieges für die USA deutlich werden, dürfte auch die amerikanische Tradition eines eher isolationistischen Denkens aktiviert werden, das stets die Tendenz hatte, die weltpolitische Verantwortung der USA zu begrenzen. Die Kosten des Unilateralismus sind ja nicht nur finanzieller Natur, sondern vor allem politisch kaum zu kalkulieren. Man denke nur an die merkwürdigen und überraschenden Koalitionsbildungen im UNO-Sicherheitsrat zwischen Frankreich, Deutschland, China und Rußland oder an die antiamerikanischen Demonstrationen auf den Strassen Teherans, die sicher nicht durch die Sympathie für den Erzfeind Saddam Hussein zu erklären sind. Die Rolle des Weltpolizisten kann sich niemand einseitig zuschreiben, ohne die Gegenwehr derer, die ihr unterworfen werden sollen, zu provozieren.


Die historische Entwicklung des europäischen Rechts- und Staatensystems von der Macht des Stärkeren hin zu Strukturen, die sich auf ein Gewaltmonopol im Dienste des Rechts stützen, kann optimistisch machen, dass derartige Schritte auch global vollzogen werden können. Allerdings waren dazu auch in Europa viele Kriege nötig, um diese gesellschaftlichen Lern- und Zivilisierungsschritte zu ermöglichen.


Wenn man Kriegen überhaupt eine langfristig positive Wirkung zuschreiben will, so könnte sie darin liegen, derartige Lernschritte wahrscheinlicher zu machen. Das Lernmotiv dafür liefert die Paradoxie des Krieges, dass der Verlierer bestimmt, wann der Krieg zu Ende ist. Nur wer sich als Verlierer definiert, kapituliert, sich in eine asymmterische Beziehung fügt und sich unterwirft, kann einseitig bestimmen, dass das Kämpfen aufhört. Aus dieser Paradoxie resultiert, dass Kriege die Tendenz zur Chronifizierung haben. Solange kein Verlierer fest steht, herrscht Symmetrie und das Resultat des Krieges bleibt unentschieden. Das Ende des Krieges ist erst mit der Etablierung einer eindeutigen Macht gegeben.


An dieser Stelle ist die Einbeziehung eines Dritten, einer nicht zu den streitenden Parteien gehörenden, „höheren Macht“, ein probates Mittel der Paradoxieauflösung. Das gilt für die Etablierung von Hierarchien wie die Verrechtlichung von Konflikten. Auf diese Weise läßt sich zum einen eine Asymmetrie zwischen der jeweiligen höheren Autorität (dem Recht, seinen Repräsentanten und Institutionen bzw. den Machthabern oder Hierarchen) und den beiden streitenden Parteien etablieren, zum anderen bleibt aber die prinzipielle Symmetrie auf der Ebene der Beziehung zwischen den Konfliktparteien gewahrt.

Würde der UNO solch eine Rolle zugewiesen und würde sie auch von den USA akzeptiert, so wäre das Problem des amerikanischen Hegemonieanspruchs gelöst. Die Symmetrie der einzelnen Staaten oder sonstigen sozialen Einheiten, die miteinander in Konflikt geraten können, wäre gewährleistet. Vor dem Gesetz sind alle gleich. Dadurch, dass die hierarchisch übergeordnete Position an eine neutrale, internationale Organisation gebunden ist, deren Parteilichkeit der Einhaltung von Prozeduren der Konfliktlösung gilt, wird die Akzeptanz ihrer Autorität ohne Demütigung für alle Beteiligten möglich. Hierarchien entstehen im Allgemeinen nicht, weil irgendjemand machtlüstern ist (das tun sie manchmal auch, sie sind dann aber meist nicht längerfristig tragfähig), sondern sie entwickeln sich, weil sie den Weg zu einer ökonomischen Form der Konfliktlösung und –vermeidung eröffnen. Wenn klar ist, wer im Zweifel die Macht hat, braucht man sich auf der jeweils untergeordneten Ebene nicht um die Macht zu streiten. So könnte es sich auch auf globaler Ebene für die USA rechnen, sich solch einer höheren Macht unterzuordnen, sich dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag, dem UN-Sicherheitsrat usw. zu unterwerfen.


Wenn es global möglich wäre, zu einer Verrechtlichung internationaler Konflikte (nicht nur im Sinne zwischenstaatlicher Konflikte, sondern auch im Sinne von Konflikten zwischen anderen, über- oder multi-nationalen, sozialen Einheiten) zu gelangen, dann könnten terroristische Aktionen wie die Anschläge vom 11. September 2001 als Problem einer Art Weltinnenpolitik mit Polizeiaktionen beantwortet werden. Voraussetzung dafür wäre aber eine Weltordnung, die so weit konsensfähig ist, dass sich nicht der eine Teil der Welt durch den anderen kolonisiert oder seiner Souveränität beraubt fühlt.