100000 Schulschwänzer in Deutschland?

Die Stadt Uelzen wirbt mit dem Slogan „liebenswert und lebenswert“. Ob das wohl auch die 106 Schülerinnen und Schüler so erleben, die (bzw. deren Eltern) das Schulamt des Kreises im Jahr 2006 zu Bußgeldern von im Einzelfall bis zu 1000€ wegen Schulschwänzens verdonnert hat? Früher seien 30 bis 40 Fälle pro Jahr gemeldet worden, 2006 seien es 129 gewesen, meldete die Schulverwaltung des Kreises letzte Woche. Die ARD-Sendung Brisant brachte ebenfalls einen Bericht über das Problem der Schulschwänzer und nannte die Zahl von 100000 Fällen pro Jahr in Deutschland, bezog sich dabei auf eine Studie der Berliner Polizei aus dem Jahr 2004. Die Uelzener Zahlen auf die Republik hochgerechnet ergeben rund 110000 solcher harter Fälle. Und Uelzen ist bestimmt kein besonderer Brennpunkt. Das ist wirklich erschreckend, zumal man davon ausgehen kann, dass es sich bei den durch die Schulen angezeigten Fällen um so etwas wie die Spitze des Eisbergs handelt. Viele Schwänzer versuchen die Lehrer und Schulleiter allein wieder auf den Pfad der Tugend zu bringen und wieder zum regelmäßigen Schulbesuch zu bewegen. Leider gibt es zu diesem Phänomen keine verlässlichen Zahlen und keine erziehungswissenschaftlichen Studien. Schon vor vier Jahren gab es eine geschätze Zahl für die Gesamtheit der Fälle von 500000. Nicht unrealistisch und vielleicht noch zu niedrig. Aber dies ist eben ein Reizthema mit Schattendasein wie das Schülermobbing. Dabei werfen die bekannten Fakten schon eine Fülle von Fragen auf.


Es wäre wichtig herauszufinden, was für Ursachen dieses grassierende Schülerverhalten hat; denn so viel steht fest: Kinder und Jugendliche haben eine Menge von Gründen, weshalb sie nicht (mehr) zur Schule gehen (wollen). Doch das Pferd wird wie so oft vom Schwanz her aufgezäumt: Bußgelder, gemeinnützige Arbeiten, kurz: Druck ganz gleich welcher Art. Im ARD-Beitrag zum Thema wurde gar ein Fall aus Thüringen berichtet, in dem eine zweiwöchige Jugendhaftstrafe verhängt worden ist. „Wir hatten keine andere Wahl mehr“, sagte der Schulleiter. Haben die noch alle Tassen im Schrank?, frage ich mich. Was läuft da schief? Kriminalisierung eines unkorrekten Schülerverhaltens. Der erste große Fehler wird zumeist schon dadurch gemacht, dass ohne jede Hinterfragung der Hintergründe massiver ungerechtfertigter Unterrichtsversäumnisse die bedingungslose Erfüllung der gesetzlichen Schulpflicht reklamiert wird: Wer die gesetzliche Pflicht zum Schulbesuch verletzt, ist ein Gesetzesbrecher. Punkt. Ende.


Dabei liegen manche Gründe auf der Hand. Wenn etwa viele Bußgeldbescheide an die Eltern von Grundschulkindern gehen, besteht die berechtigte Vermutung, dass es sich dabei oft um Migranten handelt, die schlicht unsere deutschen Bestimmungen nicht kennen oder nicht richtig verstehen. Auch verstehen ihre Kinder manchmal nicht, was in der Schule passiert und verweigern aus Angst die Schule. Der Katalog von Gründen in diesem Bereich kann lang sein. Nur: Was tun die Schulen und Behörden, um diesen Eltern frühzeitig und ausreichend die Unterstützung zukommen zu lassen, die es diesen Menschen überhaupt erst ermöglicht, die Bestimmungen korrekt zu erfüllen? Außerdem: Noch immer wird um das Bleiberecht für geduldete Ausländer zwischen den Koalitionären in Berlin und mit einigen Ministerpräsidenten, vor allem mit einem, gestritten. Auch das hat konkrete Folgen beim Schulbesuch der Kinder. Ein interessantes positives Beispiel wurde aus einem Stadtteil von Köln berichtet, in dem viele Roma-Familien mit solchen Schwierigkeiten kämpfen. Als sie ihre Kinder plötzlich nicht mehr zur Schule schickten, suchten Lehrerinnen und Kinder der Klasse die fehlenden Kinder zu Hause auf. Das Eis war gebrochen, der Schulbesuch ab da wieder regelmäßig.


In der Sekundarstufe I gibt es eine Menge von Fällen, in denen Kinder nicht zur Schule gehen, um den ständigen Quälereien durch Mitschüler oder gar der Blamage durch Lehrer zu entgehen. Andere schämen sich, weil sie manches nicht gut können und öfter deshalb bloß gestellt worden sind. Da hilft zuerst einmal genaues Hinsehen und genaue Untersuchung der Hintergründe und Motive. Wenn allerdings nur auf der formalen Erfüllung der Pflicht bestanden wird, dann kann das nur schief gehen. In den Berichten wird auch deutlich, dass die Schulverweigerung eine neue Qualität in der Art erreicht hat, wie sie gelebt wird. Da gehen Jugendliche morgens von zu Hause weg zur Schule. Dort aber kommen sie nicht an. Droht der Schwindel aufzufliegen, schrecken sie nicht vor allerhand Täuschungen, Tricks und Lügen zurück. Da und dort bilden sich regelrechte Gangs von Schulverweigerern. Ich denke da gibt es eine Art Prozessentstehung und –verlauf in einzelnen Phasen, der durch die Schulforschung untersucht gehört. Angefangen vom gelegentlichen Schwänzen einer Stunde bis hin zur totalen Verweigerung ist es ein langer Weg. Und außerdem: Je länger der Fall ungelöst weiter geht, desto schwerer wird die Rückkehr zum normalen Schulbesuch. Die wenigen Beispiele mögen genügen, um deutlich zu machen, wie und warum in so vielen Fällen die Kooperation zwischen Schulen und Elternhäusern sowie ihren Kindern im Argen liegt und dass Schulschwänzer nicht geboren, sondern gemacht werden. Durch die Lebensumstände oft, vielleicht, aber nicht nur. Und: Wir können als Lehrer etwas tun und wir müssen es. Wer sonst?


Es kommt auf die Klugheit, Fantasie, Geduld und doch auch Unnachgiebigkeit der einzelnen Lehrerinnen und Lehrer sowie der Schulleitungspersonen an, soll ein Kind oder Jugendlicher auf den Pfad der Tugend (des regelmäßigen Schulbesuchs) zurück geführt werden. Einmal mehr könnte der Grundsatz unserer finnischen Kollegen zur Geltung kommen: Wir brauchen jeden. Versager können wir uns nicht erlauben. Auch ein altes deutsches Sprichwort kann die pädagogische Handlungsfähigkeit im praktischen Alltag fördern: Wehret den Anfängen! Aber mit Klugheit, Verständnis, Respekt für die widrigen Lebensumstände vieler Menschen von heute und Zähigkeit und nicht mit Druck, Drohung und Strafen vor jedwedem Nachdenken über die wirklichen Ursachen und Hintergründe des einzelnen Falles.


Ich weiß, ich habe es gut, lebe im Ruhestand und kann es mir gleich wieder bequem machen. Aber ich schaue immer noch genau hin, nehme wahr, was da geschieht und weiß: Es ist manches schlimmer geworden als noch vor Jahren, aber gegeben hat es das schon immer. Nur eben nicht so häufig und selten so heftig wie es heute mancherorts an der Tagesordnung ist. Dennoch weiß ich, dass die Aufgabe, am Ball zu bleiben, damit die lieben Kleinen ihre Pflichten erfüllen, noch immer die selbe schwere und gleichzeitig empathieerfüllte Arbeit ist wie früher. Ich habe nur den unbestimmten Eindruck, dass es genau damit vielerorts nicht weit her ist. Wer ausgebrannt ist wie viele der Kolleginnen und Kollegen, hat genau diese Kraft eingebüßt, ohne die es doch für vieles keine Lösung gibt: Empathie. Aber das ist ein anderes Kapitel, nur lässt auch sie sich nicht mit Bußgeld und Haftandrohung herbeizwingen, so wenig wie die Bereitschaft zum regelmäßigen Schulbesuch.


Einen empathischen Gruß an Sie, liebe Leserin, lieber Leser, vor allem an die schulschwänzergeschädigten Kolleginnen und Kollegen unter Ihnen,


Horst Kasper