Der Sternenhimmel der Werte

Der Sternenhimmel der Werte


von Heiko Kleve


 


Ich möchte die Kommunikation über Werte, Moral und Ethik noch eine Runde weiterführen. Denn ich habe den Eindruck, dass wir hier an einem wichtigen Thema sind, das nicht nur Steffen Roth und Fritz Simon beschäftigt, sondern dessen Reflexion viel dazu beitragen kann, dass wir mehr von der Dynamik unserer Gesellschaft, zumal in Krisenzeiten, verstehen können. Niklas Luhmann (2008, Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 242) benutzt die Metapher des Sternenhimmels, um die reine Quantität der Werte zu veranschaulichen und aufgrund dieser schier unermesslichen Zahl von möglichen Werten zu schlussfolgern, dass die Grundwerte, wie etwa „Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Frieden Sicherheit, Würde, Wohlfahrt, Solidarität“ dazu dienen, eine Basis einzuführen, die eine übergroße Mehrheit teilt.


Mit diesen Grundwerten ist jedoch keineswegs Ruhe in die Moralkommunikation und die Kommunikation über Moral eingekehrt, denn nicht nur die Gewichtung bzw. Priorisierung der genannten Grundwerte kann durchaus sehr unterschiedlich sein. Noch fundamentaler wirkt wohl das, was Steffen Roth als systemische Perspektivenvielfalt beschreibt: „Was gut aus der Perspektive des einen Systems sein kann, mag schlecht aus der Perspektive des anderen sein, einem dritten ambivalent erscheinen, und einem vierten ganz egal sein.“ Erst die funktionale Differenzierung der Gesellschaft führe, wie er in seinem letzten Beitrag schreibt, zu den vielfältigen und differenten Perspektiven auf die Moral. Das erleben wir sehr anschaulich in der Corona-Gesellschaft.


Ein Widerspruch scheint jener zwischen den Interessen des Gesundheitsschutzes und denen der freien wirtschaftlichen Entfaltung von Unternehmen zu sein. Allerdings verläuft diese Differenz zwischen gesundheitlichen und wirtschaftlichen Fragen selbst in Organisationen, die eher dem einen als dem anderen System zugeordnet werden, etwa in Krankenhäusern. Diese beklagten sich darüber, dass in der Zeit des Lockdowns sehr viele Betten leer standen, dass gar über Kurzarbeit des Personals nachgedacht werden musste.


Mit Fritz Simon könnten wir nun sagen, dass die Kommunikation über Werte nicht der Eigendynamik der Gesellschaft überlassen werden sollte, sondern dass wir ein Funktionssystem ausmachen können, in dem die öffentliche und demokratische Debatte über die moralischen Präferenzen, die die gesellschaftlichen Systeme leiten sollen, stattfindet, nämlich die Politik. Mit der politischen Kommunikation stellen wir die Frage, in welcher Gesellschaft wir (nicht) leben wollen. Hier ist die Debatte erwünscht. Regierung und Opposition repräsentieren bestenfalls auf der Basis eines moralischen Minimalkonsenses, der in Deutschland vom Grundgesetz markiert wird, unterschiedliche Wertepräferenzen, die sich im Disput miteinander befinden, zwischen denen hin und her gependelt wird, manchmal Kompromisse möglich sind oder sich gegensätzliche Entweder-oder-Positionen einstellen.


Aber reicht diese Form der politischen Kommunikation über Werte für eine funktional differenzierte Gesellschaft aus? Lässt sich im politischen System oder von diesem System aus tatsächlich die gesamte gesellschaftliche Wertedebatte führen? Freilich sehen wir hier wohl auch die Medien, die die Politik beobachten und kommentieren, als weitere Kraft. Aber welche Rolle spielen dabei die anderen relevanten Systeme, etwa die Wissenschaft, das Recht, die Kunst, die Religion, das Erziehungs- oder auch das Gesundheitssystem? Wieder komme ich mit meiner bereits bekannten Frage: Wie gelingt die Integration des Unterschiedlichen? In welcher Weise werden die differenten systemischen Perspektiven aufeinander bezogen und miteinander verbunden? Ist die Politik in der Form des Staates bereits in einer Weise organisiert, dass diese Moderation der Differenzen passend gelingt? Oder sind neue politische Organisationsformen für eine sich durch das Internet weiter dynamisierende Kommunikation innerhalb der Gesellschaft notwendig?


 


 


Die Etikette der Alternativen


von Steffen Roth


 


Werte. Achtung. Moral. Vielleicht macht es Sinn, diese Begriffe noch ein wenig systematischer auseinander zu halten.


Soweit ich unsere Theorie verstanden habe, benutzen wir den Begriff Wert für die Kommunikation von sachbezogenen und den Begriff Achtung für die Kommunikation von personenbezogenen Präferenzen. Wert- und Achtungskommunikation bezeichnen demnach die Sach- und Sozialdimension der Moralkommunikation. Das kann man nicht zuletzt deshalb leicht durcheinanderbringen, weil die Frage, ob es sich bei «Grosser Gott, wir loben Dich» um Wert- oder Achtungskommunikation handelt, massgeblich davon abhängt, ob Gott seinem Beobachter Idee oder Person ist.


Bei Moral geht es demnach nicht nur um die von Fritz Simon zitierten Bedingungen für den Erwerb oder Verlust von Achtung, es geht auch um die Bedingungen für Präferenzen für oder Abneigungen gegen Objekte auch «immaterieller» Art. In beiden Fällen ist der binäre Code der Moral gut/schlecht, der sich analog aber auch problemlos und nahezu unbegrenzt als besser/schlechter skalieren lässt.


Wenn wir Moral nun durch die Linse der Entscheidungskommunikation beobachten, und etwas anderes fällt modernen Beobachtern schwer, dann erscheint sie uns als Programm, das bedingt, welche Präferenzen und welche Präferenzen für welche Präferenzen man hat oder eben überhaupt haben kann.


Der Code und somit die Programme der Moral sind dabei aber in einer Sprache geschrieben, die quer stehen zu denen der Entscheidungskommunikation. Wer in Sachen Partnerwahl wahrhaftig glaubt, dass der Mensch nicht trennen soll, was Gott zusammengefügt hat, für den gilt eben nicht, wie Fritz Simon für Entscheidungen beobachtet, «dass den beiden Seiten der Unterscheidung [hier: treu/untreu] ein unterschiedlicher Wert von dem oder den Beobachtern zugeschrieben wird». Nein, wer an göttliche Zusammenfügung glaubt, bei dem findet keine Wertzuschreibung als Entscheidungsergebnis statt, für den steht der Wert und stand schon immer geschrieben. Untreue ist und war so nie eine Option, und wer auf dieser Grundlage untreu wird, der entscheidet sich nicht, der scheitert.


Insofern begrenzt Moral den Spielraum von Entscheidung. In das Entscheidungsspiel selber greift sie aber nicht ein. Entscheidung kommt erst ins Spiel, wenn der Konditional selbst im Zielprogramm die Alternative mitführt und somit den gesetzten Wert neutralisiert. Erst dann stehen wir vor «those questions that are in principle undecidable», erst dann kommt es zu Entscheidungskommunikation, erst dann verlangt es uns nach Organisation.


Nun mag man Entscheidungsprogramme wie etwa den kategorischen Imperativ als algorithmisierte Moralprogramme beobachten, übersieht dann aber geflissentlich, dass es solche Programme erst braucht, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist, zumal jedem Entscheidungsprogramm, jeder Organisation zwingend eigentlich nur eins klar sein muss: dass es Alternativen gibt, und damit auch zu einem selbst.


So kann der organisierte Beobachter dann auch Alternativen zur Organisation beobachten. Man kann an die Stelle einer Entscheidung einen «Wert» setzen. Und siehe da: Dann wird an dieser Stelle nicht entschieden. Dann beobachtet man eben nicht Organisation. Beispiel Unternehmensnachfolge nur durch Familienmitglieder. Wenn das gesetzt ist, dann funktioniert das als Moralkommunikation, und die macht Entscheidungskommunikation unmöglich, und zwar genau solange wie die Moralkommunikation nicht als Entscheidungskommunikation verstanden wird. Sobald man aber beobachtet, dass sich das Selbstverständliche nicht mehr von selbst versteht und deshalb beispielsweise in rechtlich verbindlichen Unternehmensfamilienverfassungen fixiert werden muss, beobachtet man Organisation. Man hätte sich beim Verfassen des Dokuments ja auch für einen Traditionsbruch entscheiden können. Just das beweist die Existenz der Verfassung, und just in diesem Sinne gilt es, nicht unbedingt die von Fritz Simon wiederholt angesprochenen Ebenen, sondern eben Unterscheidungen auseinanderzuhalten.: Wer Entscheidungskommunikation als Kette aktualisierter Wert- oder Moralkommunikation beobachtet, der beobachtet Kommunikation womöglich auch ganz allgemein als wechselseitige Verhaltenssteuerung; in jedem Fall beobachtet er nur einen Fussabdruck der betreffenden Kommunikation.


Der springende Punkt bei der Entscheidungskommunikation ist nicht der aktualisierte Wert, sondern die Beobachtung von Alternativen. Wie Etikettiergeräte taggen Organisationen jedes Thema gnadenlos als Alternative. Auch moralische Werte. Auch und gerade, indem sie sie «präferieren», weil sich nun der Wortsinn verschiebt und perspektivisch wohl einen anderen Begriff notwendig macht. Denn wenn Organisationen Werte thematisieren, dann funktionieren sie Werte um, zum Beispiel in Entscheidungsprämissen. Auch sonst beruht beileibe nicht, wie von Fritz Simon unterstellt, jede Entscheidung darauf, dass den Alternativen unterschiedliche moralische Werte zugeordnet werden. Entscheidung kann nicht zuletzt auch ganz moralfrei funktion(alis)ieren, indem sie etwa ein Kunstwerk zum Anlageobjekt umetikettiert, was nur einem leidenschaftlichen Moralisten zwingend als moralisches Problem erscheint. Der moralische Code gut/schlecht wird so von der Richtschnur zu einer Option unter vielen, wobei man nun je nach Funktion beobachten kann, dass Zahlungsverzicht mitunter nützlich ist oder sich Wahrheit nicht immer anbietet.


Auch dass sich der Staat vornehmlich an politischen und ökonomischen Kategorien orientiert, macht ihn nicht zur guten oder schlechten, sondern zur vornehmlich «politökonomischen» Organisation. Insofern fällt mir kein wissenschaftliches Argument ein, warum just diesem politökonomischen «Dickhäuter» (Stefan M. Seydel), und nicht etwa einem anderen wie der katholischen Kirche, die Deutungshoheit zustehen sollte über «die öffentliche und demokratische Debatte über die moralischen Präferenzen, die die gesellschaftlichen Systeme leiten sollen» (Heiko Kleve). Vermutlich bringen uns ein freundliches Wort und eine Pistole oft weiter als nur ein freundliches Wort, aber das verschafft einem politischen Aktanten m.E. keine moralische Überlegenheit gegenüber dem von Fritz Simon geringgeschätzten Marktprinzip «wer zahlt schafft an». Der Zweck mag Vielen viele Mittel heiligen, aber wenn Wissenschaftler nun für Theokratien den geringsten ökologischen Fussabdruck ermitteln, wäre es dann «ethisch», Staaten weltweit wieder primär an Religion auszurichten?


Auch Heiko Kleves Frage, wie die «Integration des Unterschiedlichen» gelingen könne, will ich nicht beantworten, weil in ihr doch recht deutlich mitschwingt, dass Integration gut ist und Differenz ein Problem. Für mich als Oberhaupt (Entrüstung, ich weiss, aber so hiess das damals etwa im Kanton Fribourg, Chef de famille, und man bringt von Reisen ja immer Souvenirs mit) einer durch und durch internationalen Familie ist es vielleicht genau umgekehrt: Differenzen sind gut und Integrationserwartungen das Problem. Wer will das schon wissen?


Im Übergang von der stratifizierten zur funktional differenzierten Gesellschaft lässt sich mit unserer Theorie nun mal ein Umschalten von Integration auf Differenz beobachten. Ein Switch von Präferenz zu Prävalenz. Ein Umschlag von Qualität auf Quantität. Die inzwischen glücklicherweise wenig originelle Erkenntnis lautet: Die moderne Gesellschaft ist «statistischer» geworden und weniger moralisch. Dass Quantifizierung und Simulation auch Nachteile haben können, haben wir unlängst wieder am eigenen Wirtsorganismus erfahren und stellen uns dafür prompt die moralische Quittung aus.


Entsprechend hat zumindest Kommunikation über Werte und Achtung gerade wieder Konjunktur. Dabei trifft die Krise aber ohnehin auf ein gesellschaftliches Klima oder auch konkret auf ein Massenmediensystem, in dem wir öfter auf markante Werturteile und «Bad News» als auf funktionale Fantasie zu stossen scheinen. Sekundiert vorzugsweise von irgendeiner «kritischen Theorie» befördert dieser funktionale Analphabetismus ein «progressives» Distinktionsgebahren, das sich weitestgehend darin erschöpft, sich im selbstkonterkarierenden Rückgriff auf Strukturmuster der Stratifizierung für irgendwelche Werte zu entscheiden, die man Anderen dann als alternativlos vorsetzt, oft auch damit man irgendwelche Verzichterwartungen daran knüpfen kann. Für all das hat man dann irgendwelche Gründe, die man nicht bräuchte, wenn die unterstellten Werte tatsächlich Werte wären.


So entstehen ernste Probleme, die keine sein müssten. Wenn uns der technische Fortschritt tatsächlich eine gläserne Welt beschert, in der Jeder jederzeit beobachtbar ist, dann wäre grösstmögliche moralische Indifferenz der Schlüssel für den panoptischen Käfig. Statt ihn im Schloss zu drehen, moralisiert man in diesem wie in anderen Fällen lieber den technischen Fortschritt und trägt so sein Scherflein zu seinen eigenen Zukunftsängsten bei.


Ein moralisches Decoupling wäre demnach funktional, wenn man den technischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts nicht länger Sozialstrukturformen der Frühmoderne entgegenhalten will. Zudem ist es machbar. Man hätte auch ohne Moral immer noch jede Menge Steuerungsoptionen. Rechtsprechung etwa hängt schon lange – gelinde gesagt – nur noch wenig davon ab, was irgendwelche alteuropäisch gedachten Menschen für gut und richtig erachten. Allzu oft kann nur Gesetz werden, was etwa wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und auch bezahlbar ist; und in jedem Fall muss neues Recht letztlich mit bestehendem Recht in Einklang zu bringen sein. Like it or not: Der Takeoff der Funktionssysteme hat sich längst vollzogen. Die neue Etikette der Alternativen kann von moralischen Werten unabhängig sein.


Den moralischen Cassandra-Komplexen der «progressiven» und «kritischen» Kräfte kann man demnach getrost einen funktionalen Zweckoptimismus entgegenstellen: Jeder Versuch, eine erstmal losgetretene Organisationsgesellschaft bewusst wieder auf Moral zu stellen, wird keinen anderen Impact haben als die ephemeren Fussabdrücke derer, die gerne auf ihr herumtrampeln.


 


 


Paradoxie-Management


von Fritz B. Simon


Wenn Heiko Kleve in seiner Einleitung über „Werte“ spricht, über die es zu diskutieren gilt, so schließt er an den allgemeinen Sprachgebrauch an, d.h. er bezieht sich auf Ideen wie „Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Frieden, Sicherheit, Würde, Wohlfahrt, Solidarität“. Diese Begriffe erfreuen sich – wenn man genauer prüft – lediglich deswegen so breiter Zustimmung, weil es Worthülsen sind, in die man hineinstecken kann, was immer man will. Es sind Abstrakta, deren Funktion in der Konfliktvermeidung besteht. Sie ähneln vielen UN-Sicherheitsrats-Resolutionen, die ebenfalls so formuliert sind, dass jeder zustimmen kann, weil aufgrund ihrer Vieldeutigkeit keinerlei Verpflichtungen aus ihnen resultieren.


„Die Wahrheit ist konkret“ hat ein großer Denker gesagt. Aus konstruktivistischer Perspektive muss dieser Satz etwas umformuliert werden: Was jemand für wahr hält, zeigt sich in seinem konkreten Verhalten. Das gilt für die Bewertungen des eigenen und fremden Verhaltens. Innerhalb von sozialen Systemen werden derartige Bewertungen dadurch ausgehandelt (im wörtlichen Sinne, d.h. durch die vollzogenen Handlungsweisen in der Interaktion etablieren sie sich). Das gilt zumindest für die sogenannten moralischen Regeln. Sie müssen nicht explizit gemacht oder formal beschlossen werden, um das Verhalten zu steuern. Also auch, wenn Steffen Roth sich „moralfreie Steuerungsoptionen“ vorstellen kann (das kann ich auch), wir werden die Moral nicht los, da sie sich – ob das gefällt oder nicht – selbstorganisiert formt.


Wer nicht verachtet oder auf die eine oder andere Art ausgegrenzt werden will, muss sich den impliziten Erwartungen seiner Mitmenschen an sein Verhalten anpassen, oder er muss diese Erwartungen (d.h. die Regeln des Umgangs miteinander) zu ändern versuchen. Das ist es, was man als Integration eines Individuums in ein soziales System bezeichnen kann: die Akzeptanz der Einschränkungen des eigenen Handlungsspielraums. Integration ist immer Freiheitsverlust, d.h. eine Zumutung. Alle Differenzierung hat nur eine Chance zu überleben, wenn sie innerhalb dieser Grenzen bleibt oder es ihr gelingt, sie zu verschieben.


Ich denke nicht – wie mir von Steffen Roth zugeschrieben – es beruhe „jede Entscheidung darauf, dass den Alternativen unterschiedliche moralische Werte zugeordnet werden“ (wo hat er das her?), aber es geht bei jeder Alternative und damit bei jeder Entscheidung um Bewertungen (seien sie moralisch, politisch, ökonomisch, ästhetisch usw.). Vielleicht müssen wir da noch mal die Begriffe klären. Und ich habe nie Verzicht gepredigt (denn das sollte niemand tun, der nicht selbst verzichtet), vor allem aber schätze ich keineswegs den Markt generell gering. Aber es gibt eben einen Unterschied zwischen ungeregelten und geregelten Märkten, und es gibt darüber hinaus Bereiche, für die es intelligentere Wege der Entscheidungsfindung gibt, als es Marktmechanismen sind, und bei denen es m.E. kriminell (um nicht zu sagen: idiotisch) wäre/ist, Märkte entscheiden zu lassen. So wie es Bereiche gibt, in denen es m.E. idiotisch wäre, Entscheidungen allein aufgrund moralischer Erwägungen zu treffen. Hoch lebe die Differenzierung.


Es finden sich, da geben ich Heiko Kleve und Steffen Roth recht, in einer hochdifferenzierten Gesellschaft sehr unterschiedliche Perspektiven auf fast alles und damit verbunden höchst unterschiedliche Interessen und Bewertungsmaßstäbe. Um es auf eine Formel zu bringen: Soziale Systeme (alle) – große wie kleine, von der Paarbeziehung bis zur Weltgesellschaft – sind paradox organisiert, d.h. sie müssen stets damit leben und es managen, dass jede Entscheidung, die für ein Subsystem bzw. Mitglied rational und richtig (womöglich auch moralisch gut) ist, für ein (oder viele) andere(s) Subsystem(e) irrational und falsch (womöglich auch moralisch schlecht) ist.


Meiner Meinung nach gewinnen systemtheoretische Konzepte ihre Relevanz, weil/wenn sie den Fokus der Aufmerksamkeit auf Paradoxien richten. So lässt sich die Entstehung einer funktionell differenzierten Gesellschaftsstruktur als Entfaltung von Paradoxien erklären. Um bei unserem aktuellen Beispiel zu bleiben: In „Gesundheitssystem“ und Wirtschaft treffen die Akteure ihre Entscheidungen nach unterschiedlichen Bewertungskriterien (in der Sach- wie der Sozialdimension). Aus der Paradoxie des übergeordneten gesellschaftlichen Systems, dass das, was ökonomisch richtig ist, im Blick auf den Lebenserhalt falsch sein kann und umgekehrt, werden zwei Subsysteme, in denen jeder Akteur (im Idealfall) ambivalenzfrei entscheiden und handeln kann: Ärzte versuchen den Regeln der Kunst entsprechend Leben zu retten, Manager versuchen Profite zu erwirtschaften (um es klischeehaft darzustellen). Die Paradoxie wird nicht aufgelöst oder entschieden oder in einer Synthese „aufgehoben“, sondern sie wird in Form eines strukturellen Konflikts auf Dauer gestellt. (Das ist besonders gut zu beobachten, wenn man Klinikleitungen, bestehend aus einem/r Chefarzt/Chefärztin, dem/der wirtschaftlichen Geschäftsführer/in und der/dem Pflegeleiter/in beobachtet/berät.)


Das Risiko solch einer Paradoxie-Entfaltung besteht darin, dass Entscheidungen blockiert sein können. Das ist dann der Moment, wo Hierarchie ins Spiel kommen kann (wahrscheinlich: muss). Ihre Funktion ist es – ich wiederhole mich, ich bin mir dessen bewusst – „unentscheidbare Fragen“ (das ist synonym zu „paradox“) zu entscheiden. Und das tut sie, wenn sie schlau ist, nicht ein für alle Mal („basta!“), sondern jedes Mal, wenn der strukturelle Konflikt offenbar wird, d.h. wenn er in die Kommunikation kommt und Entscheidungskommunikation notwendig wird. In traditionellen Organisationen ist das üblicherweise die Führungsspitze (das könnte aber auch anders organisiert sein, z.B. könnten theoretisch an die Stelle von Rollen und Personen auch Regeln treten, denen sich alle gleichermaßen unterordnen), in einem Staat sind es Regierung, Parlament usw.


In der Corona-Krise haben sich die meisten Staaten bzw. ihre Regierungen zeitweise gegen die Wirtschaft und für die Gesundheit (bzw. für das, was man gemäß dem aktuell akzeptierten Stand der Wissenschaft dafür hielt) entschieden. Inzwischen entscheiden die meisten sich wieder für das Hochfahren der Wirtschaft – wohl wissend, dass die erste wie die zweite Entscheidung mit Risiken behaftet war/ist.


Hat das alles etwas mit Moral zu tun? Ich denke, an den Demonstrationen in den USA („Black Life Matters!“) zeigt sich, dass die Politik, ob sie will oder nicht, immer (auch) durch die moralische Brille beobachtet wird von den Bürgern eines Landes. Die Tötung eines unbewaffneten Afroamerikaners durch ein Rudel von Polizisten hat einen moralischen Diskurs ausgelöst, dessen Folgen noch nicht abzuschätzen sind.


Dass es offenbar höchst unterschiedliche Maßstäbe sind, die auf der politischen Ebene und der öffentlichen Auseinandersetzung wirksam werden, wird am Beispiel Donald Trumps deutlich. Seine sexuellen Eskapaden werden von fundamentalistischen Christen offenbar (ohne mit der Wimper zu zucken?) akzeptiert, wahrscheinlich, weil er erzkonservative Richter an den Obersten Gerichtshof holt usw. Ob der Einsatz des Militärs gegen die eigene Bevölkerung (vor allem von den Militärs) hingenommen wird, muss sich erst noch zeigen. Und wie die Bevölkerung reagieren wird, wenn Trump im November seine Wahlniederlage nicht akzeptiert, sondern im Amt bleibt, steht auch in den Sternen (wahrscheinlich den von Luhmann zitierten).


 


 


Autoren


 


Heiko Kleve, Univ.-Prof., Dr. phil.; Sozialpädagoge und Soziologe sowie Systemischer Berater (DGSF), Supervisor/Coach (DGSv), Systemischer und Lehrender Supervisor (SG), Case-Manager (DGCC) und Konflikt-Mediator (ASFH); Inhaber des Stiftungslehrstuhls für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am WIFU – Wittener Institut für Familienunternehmen, Wirtschaftsfakultät, Universität Witten/Herdecke. Autor zahlreicher Bücher und einschlägiger Fachbeiträge zur systemisch-konstruktivistischen, systemtheoretischen und post- modernen Theorie und Praxis in den Sozialwissenschaften u. a.: Lexikon des systemischen Arbeitens (2012, zus. mit Jan V. Wirth) Die Ermöglichungsprofession. 69 Leuchtfeuer systemischen Arbeitens (2019, zus. mit Jan V. Wirth), Komplexität gestalten. Soziale Arbeit und Case-Management mit unsicheren Systemen (2016).


Steffen Roth, Prof. Dr. ist Full Professor für Management an der La Rochelle Business School, Frankreich, und Adjunct Professor für Wirtschaftssoziologie an der Universität Turku, Finnland. Seine Arbeiten wurden in Zeitschriften wie Technological Forecasting and Social Change, Journal of Business Ethics, Administration and Society, Journal of Organizational Change Management, European Management Journal, Journal of Cleaner Production oder Futures publiziert.


Fritz B. Simon, Dr. med., Professor für Führung und Organisation am Institut für Familienunternehmen der Universität Witten/Herdecke; Systemischer Organisationsberater, Psychiater, Psychoanalytiker und systemischer Familientherapeut; Mitbegründer der Simon, Weber and Friends, Systemische Organisationsberatung GmbH. Autor bzw. Herausgeber von ca. 300 wissenschaftlichen Fachartikeln und 32 Büchern, die in 15 Sprachen übersetzt sind, u. a.: Einführung in die systemische Wirtschaftstheorie (2009), Formen. Zur Kopplung von Organismus, Psyche und sozialen Systemen (2018) und Anleitung zum Populismus oder: Ergreifen Sie die Macht! (2019).